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„Città (im)mobile“
Neue Zürcher Zeitung

Ehrgeizige Architekturprojekte für Florenz

Nur zu gerne würde die Stadtregierung von Florenz den Ruf der toskanischen Kapitale loswerden, eine «città immobile» zu sein. Deshalb demonstriert sie mit Bauprojekten und Verkehrsplanungen den Aufbruch in die Gegenwart. Doch der Rückstand lässt sich nach Jahren der architektonischen Stagnation nicht so leicht aufholen.

6. Juni 2003 - Gabriele Detterer
Mit der Devise, alles so zu erhalten, wie es früher einmal war, verewigten die Florentiner seit Jahrzehnten das Stadtbild und schenkten der modernen Architektur wenig Aufmerksamkeit. Darüber kann auch das Eingangstor zur Stadt, die Stazione Santa Maria Novella (1932-34), nicht hinwegtäuschen. Der Vorzeigebahnhof war von Giovanni Michelucci und Italo Gamberini als Manifest einer rationalistischen Moderne konzipiert worden und gehört neben dem Stadion von Pier Luigi Nervi (1929-32) zu den raren Zeugnissen modernen Bauens der Medici-Stadt. Einen Aufbruch wagten in den bewegten sechziger Jahren die radikalen Architektenkollektive Archizoom und Superstudio, die mit ihren neuen Gestaltungsformen gegen die lokal tonangebenden Architekten des Gruppo Toscano (Michelucci, Leonardo Ricci, Leonardo Savioli, Edoardo Detti) opponierten. Doch das von ihnen entfachte Feuerwerk verpuffte, ohne Spuren zu hinterlassen.


Das «Gewicht der Steine»

Es überrascht kaum, dass auch die architektonische Bilanz der achtziger und neunziger Jahre in Florenz negativ ausfällt. Nichts Nennenswertes entstand in diesen andernorts doch so architekturfreudigen Dekaden. Nicht einmal der Entscheid, endlich das seit dreissig Jahren geplante Zentrum für Gegenwartskunst zu realisieren, motivierte die Stadtväter dazu, ein Zeichen zu setzen. Statt das Defizit an zeitgenössischer Kunst und Architektur mit dem Entwurf eines renommierten Architekten auszugleichen, votierten die Verantwortlichen im Palazzo Vecchio für eine wenig spektakuläre Lösung: den Umbau einer stillgelegten Textilfabrik im Stadtteil Rifredi in ein Centro d'arte contemporanea. Geplant war, mit dem neuen Zentrum dem gesichtslosen Quartier urbane Dynamik zu verleihen. Dass jedoch die Strategie der Aufwertung einer peripheren städtischen Zone mittels Kunst und Kultur einen architektonisch überzeugenden Umbauentwurf voraussetzt, wurde deutlich, als nach der ersten Restrukturierungsphase das Geld ausging. Trotz intensiver Suche fand sich kein Investor, so dass die Bauarbeiten eingestellt werden mussten. Die Phase lang anhaltenden Stillstandes versuchte Sergio Risaliti, ein engagierter Vermittler zeitgenössischer Kunst, zu überbrücken, indem er mit der virtuellen Ausstellung «Working Insider» (Maschietto Editore, Florenz 2003) im computersimulierten Centro d'arte contemporanea vorwegnahm, was möglicherweise irgendwann in der ehemaligen Textilfabrik von Rifredi zu sehen sein wird.

Es liegt auf der Hand, dass diese Verzögerungen mit dem glanzvollen Kulturerbe und dem «Gewicht der Steine» (Mary McCarthy) zusammenhängen. Weitere Blockaden lassen sich in den politischen Verhältnissen orten, die seit Jahrzehnten von einer linksgerichteten, kulturell jedoch konservativ denkenden Stadtverwaltung bestimmt werden, aber auch in einer kurzsichtigen, auf kommerzielle Interessen ausgerichteten Mentalität: Diese geht davon aus, dass der gewinnbringende Strom der Kulturtouristen nie versiegen werde und es somit nicht notwendig sei, für die Zukunft vorzubauen. Dabei sah man darüber hinweg, dass die dünne Lackschicht eleganter Einkaufsstrassen wie der Via Tornabuoni und die noble Patina der trutzigen Renaissancepaläste die Schattenseiten des Centro storico nicht übertünchen können: So steht das historische Zentrum ohne Entlastung durch ein öffentliches Erschliessungssystem (Tram, Metro, Stadtbahn) vor dem Verkehrskollaps. Die Innenstadt ist ausserdem zu klein für Infrastrukturen einer Grossstadt mit rund 200 000 Einwohnern.


Das neue Novoli

Die Raumnot und das tägliche Verkehrschaos weckten schliesslich die Stadtplaner im Palazzo Vecchio kurz vor dem Übergang zum neuen Millennium. Sie blickten den jahrzehntelangen Versäumnissen ins Auge und nahmen auf Eis gelegte Pläne einer dezentral ausgerichteten Stadtentwicklung in Angriff. Am nordöstlichen Stadtrand, nahe dem Flughafen, liegt der von Industrieansiedlungen geprägte Vorort Novoli mit dem Areal der stillgelegten Fiat-Werke. Erste Pläne einer «Riqualificazione urbana» des 32 Hektaren grossen Geländes von Lawrence Halprin und Italo Castore sowie Leonardo Ricci und Pacci Dallerba datieren aus den späten achtziger Jahren. Doch die «Città immobile» schob das Novoli-Projekt immer wieder auf. 1993 beauftragte die Stadt Léon Krier, einen vehementen Kritiker der zeitgenössischen Architektur, mit der Erstellung eines neuen «Piano Guida di Novoli». Der an historischen Stadtplänen orientierte Masterplan Kriers wurde zur Umsetzung Roberto Gabetti und Aimaro Isola übertragen. In Kooperation mit der Stadtverwaltung evaluierte das Turiner Architekturstudio jüngere italienische Architekten und beauftragte schliesslich sieben Büros (Archea; Bruna & Mellano; Bucci; Cendron; Cristofani & Lelli; Ferlenga; Galantino; Ipostudio; Tscholl), ihre Visionen von Wohnen und Arbeiten in das Novoli-Projekt einzubringen und den kompakten Krier-Plan aufzulockern. Die im vergangenen September in einer Beilage zur Zeitschrift «Casabella» (Nr. 703) präsentierten Modelle summieren sich zu einer Vielfalt baulicher Ansätze, die, teilweise retrospektiv ausgerichtet, die lokale Baugeschichte beschwören (Bruna & Mellano) oder aber Bezug nehmen auf aktuelle Architekturdiskurse wie Studio Archea, Alfonso Cendron oder Werner Tscholl.

Jüngst fertiggestellt werden konnte der vom Studio Natalini 1993 konzipierte Universitätskomplex. Dieses Teilstück der Novoli-Bebauung besteht aus einer Sequenz ziegelroter Gebäude mit ebenerdigen Arkaden. Diese heben die Fassaden hoch und akzentuieren deren horizontale Gliederung mit einem linearen Band aus Travertin. Derart zweigeteilt, erweisen sich die Bauten als Zwitterwesen, die der lokalen Geschichtslastigkeit nicht entrinnen können, sich aber auch der Gegenwart nicht verschliessen wollen und somit das Dilemma der wenig innovativen kommunalen Architektur Italiens auf den Punkt bringen.

Kernstück der Restrukturierung von Novoli bildet der zurzeit emporwachsende Justizpalast am Viale Guidoni. Vom Bauträger als «bedeutendstes Bauprojekt der öffentlichen Hand in der Toskana» (Bausumme: 135 Millionen Euro) gepriesen, enthüllt sich das Modell als «ultramodernes» Projekt von vorgestern, denn bereits für die ersten Novoli-Bebauungspläne in den achtziger Jahren hatte Leonardo Ricci (1918-94), Mitbegründer des Gruppo Toscano, den Entwurf gezeichnet. Mit einem exzessiven Grundriss beansprucht der künftige Justizpalast flächenmässig fast den zehnten Teil des neuen Quartiers. Viertausend Beamte sollen hier dereinst ihre Büros beziehen. Schon die verschachtelte Konstruktion dieser «Kathedrale» stellt die Architekten, die mit der Ausführungsplanung beauftragt wurden, vor Schwierigkeiten. Doch wie wird man in diesem Fossil der Architektur der siebziger Jahre arbeiten können? In Anbetracht der Tatsache, dass der ebenfalls von Ricci konzipierte Justizpalast von Savona (1987) wegen mangelnder Funktionalität in die Schusslinie geraten ist, mutet die Entscheidung für die verspätete Realisierung des Florentiner Ricci-Projektes geradezu verwegen an.


Projekte von internationalen Stars

Wenn im Jahr 2006 - wie vorgesehen - das Viertel fertiggestellt sein wird, hat Florenz eine neue Suburbia. Fraglich jedoch, ob damit ein Mekka zeitgenössischer Architektur, mit dem die Baugeschichte der Città d'Arte einen Quantensprung machen könnte, entstanden sein wird. Und ob Stars wie Jean Nouvel oder Norman Foster in die Bresche springen könnten, bleibt abzuwarten. Die beiden Architekten gingen als Sieger aus den ersten hochkarätig besetzten Wettbewerben der Stadt Florenz hervor: Nouvel soll das ehemalige Fiat-Verwaltungsgebäude am Viale Belfiore unweit des Hauptbahnhofs Santa Maria Novella zu einem Komplex aus Hotel, Auditorium und Einkaufszentrum mit begrünter Fassade umbauen. Etwa einen Kilometer vom heutigen Hauptbahnhof entfernt soll der von Foster projektierte Bahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge entstehen. Das in ein Schienennetz neuer Stadtbahnen integrierte, ultramoderne Drehkreuz des Fernverkehrs soll im Jahre 2006 eröffnet werden. Der 25 Meter tief im Untergrund verborgene Terminal soll eine triangolare, gläserne Dachhaube erhalten, die Tageslicht in die Tiefe dringen lässt. Der Neubau wird den bisherigen Hauptbahnhof zum Regionalbahnhof degradieren.

Dieser neue Bahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge sei mit ein Startzeichen für eine neue «Qualità urbana» der Kulturstadt, betont Gianni Biagi, seit 1999 Referent für Stadtplanung im Palazzo Vecchio. Das könnte zutreffen, wenn der Baubeginn nicht wie bei anderen Projekten immer wieder verschoben wird oder die Fertigstellung des Bahnhofes jahrelang der Vollendung harrt, wie der von Arata Isozaki konzipierte neue Ausgang der Uffizien. Bei der Realisierung dieser auf der Rückseite des Museums gelegenen Anlage sah sich auch der japanische Architekt mit dem «Gewicht der Steine» konfrontiert, wurden doch bei den Bauarbeiten Teile der mittelalterlichen Stadtmauer freigelegt. Seither ist die Baustelle auch Ausgrabungsstätte, und die Gemeinde, die mit dem neuen Isozaki-Portal die Rückfront der Uffizien und das Niemandsland der Piazza Castellani beleben möchte, sieht sich in weitere Scharmützel mit der Aufsichtsbehörde für Kulturgüter verwickelt. Dennoch sollte die von einem riesigen Vordach überschirmte Anlage im Januar 2004 fertiggestellt sein. Gut möglich, dass dieser Termin eingehalten wird, denn im September 2003 eröffnet gegenüber von Isozakis markanter «Pensilina» ein Einkaufszentrum, das die aus den Uffizien strömenden Besucher fest als Laufkundschaft einkalkuliert hat.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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