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Modernde Moderne
Neue Zürcher Zeitung

Hoffnung für das Teatro San Materno in Ascona?

23. Mai 2003 - Roman Hollenstein
Durch immergrüne Magnolien glänzt das leicht erhöht am Eingang nach Ascona gelegene Teatro San Materno im Frühlingslicht, als sei es erst vor kurzem hier errichtet worden. Beim Näherkommen aber ändert sich das Bild: Modrige Mauern, bis auf die rostenden Armierungseisen ausgezehrte Balkone, eingeschlagene Fenster und Graffiti zeugen von fortschreitendem Verfall und mutwilliger Zerstörung. Dabei handelt es sich bei dem 1927/28 vom Bremer Architekten Carl Weidemeyer verwirklichten Privattheater um den ersten klassisch-modernen Kulturbau unseres Landes. Zusammen mit Emil Fahrenkamps Hotel «Monte Verità», das unlängst saniert und für den Kongressbetrieb der ETH umgenutzt werden konnte, ist es darüber hinaus das erste Beispiel neuen Bauens im Tessins, ja in der italienischsprachigen Welt. Wurde es doch zeitgleich mit Alberto Sartoris' unrealisiertem Projekt für ein Avantgardetheater entworfen und ein Jahr vor Giuseppe Terragnis Novocomum vollendet.

Neues Bauen im Tessin

Während das touristische Tessin sich gern als Land der Architekten anpreist, scheint Ascona bis heute Schwierigkeiten mit seiner «nordischen Importware» zu haben. So wurden die meisten Häuser, die Weidemeyer in den frühen dreissiger Jahren auf der Collina und am See errichtet hatte, umgebaut oder gar zerstört. Einzig die Villa Oppenheimer konnte ihr Aussehen bewahren; und völlig unverändert, wenn auch ruinös ist das Teatro San Materno auf uns gekommen. Dieses Schlüsselwerk veranschaulicht Weidemeyers Auseinandersetzung mit dem neuen Bauen, mit dem sich der lange von der Nationalromantik faszinierte Künstlerarchitekt auf der Stuttgarter Weissenhof-Ausstellung im Spätsommer 1927 vertraut gemacht hatte. Kurz darauf wurde er vom Brüsseler Industriellen Paul Bachrach eingeladen, das Castello San Materno in Ascona umzubauen, in welchem Bachrachs Tochter, die Tänzerin Charlotte Bara, seit drei Jahren lebte. Diese beauftragte Weidemeyer sogleich mit dem Bau des kleinen Teatro San Materno, das bereits im Jahr darauf bezogen werden konnte.

Auf dem abschüssigen Gelände errichtete Weidemeyer einen schachtelartigen Theatersaal und fügte an dessen Nordseite einen vom Castello aus über zwei Treppen erreichbaren apsisförmigen Halbzylinder an, der als Eingang, Foyer und Aufgang zur Empore dient. Während die Nebenräume und ein Studio in den westlichen Steilhang hineingebaut sind, schliessen zwei weitere Ferienwohnungen das einst für Tanzaufführungen genutzte Flachdach gegen Süden ab. Über halbkreisförmig geführte Treppen gelangt man durch den kleinen, formal angelegten Garten direkt zu den Wohnungen. Sie sind es, die das Aussehen des ursprünglich zartgelb gestrichenen und durch petrolgrüne Fensterrahmen akzentuierten Gebäudes bestimmen, so dass es von aussen eher einem grossen Atelierhaus als einem Theater mit 100 Sitzplätzen gleicht.

Diese Tatsache verdeutlicht, dass es Weidemeyer nicht um einen nüchternen Funktionalismus ging. Vielmehr versuchte der auch als Künstler tätige Architekt, eine malerische Antwort auf die in Stuttgart studierten Bauten zu geben, indem er die neue Architektursprache in einer vom Erscheinungsbild her geprägten, künstlerischen Weise einsetzte. Abgesehen vom Sonnendeck der Dachterrasse, dem eine klar definierte Aufgabe zukam, setzte er Le Corbusiers Schiffsmetaphern und Mendelsohns Stromlinienformen vorab dekorativ ein. Mit Stützmauern und loggienartigen Balkonen erwies er aber auch der lokalen Bautradition seine Reverenz und fand so zu einer frühen Form der regionalistischen Moderne, die Parallelen zu Terragnis Novocomum oder zur «Bauhausarchitektur» von Tel Aviv aufweist.

Vordringliche Renovation

Charlotte Bara nutzte das Theater bis Ende der fünfziger Jahre. Später ging das 1970 behelfsmässigen restaurierte Gebäude an die Gemeinde Ascona, die es langsam verfallen liess. Als 1996 auf Initiative des Historikers Wolfgang Oppenheimer die Weidemeyer-Stiftung in Ascona gegründet und der Nachlass für das Museo Communale gesichert werden konnte, war der Zustand dieser Ikone der Moderne bereits besorgniserregend. Dann kam vorübergehend Bewegung in die Sache: Die Gemeinde beauftragte den Architekten Guido Tallone, der sich in den siebziger Jahren mit skulpturalen Betonbauten, später aber mit kontextuellen Arbeiten einen Namen gemacht und damals gerade die malerische Dorfkirche von Maggia vorbildlich erneuert hatte, mit der Ausarbeitung eines Restaurierungsprojekts.

Zusammen mit einem Team von Spezialisten analysierte Tallone den Istzustand des kleinen Bauwerks und spürte der ursprünglichen Farbgebung des auf alten Schwarzweissabbildungen immer strahlend weissen, in Wahrheit aber zart polychromen Gebäudes nach. Um das Theater mit seinem bordeauxroten Saal den heutigen Anforderungen anzupassen, entwarf Tallone neue Räume für Technik und Verwaltung sowie Schauspielergarderoben, die er hinter den bestehenden Stützmauern oder direkt im Hang verwirklichen möchte. Der Theatersaal und die Wohnungen können dereinst wieder mit dem Originalmobiliar ausgestattet werden, das Tallone bei seiner Bestandesaufnahme vorfand und ausbauen liess.

Im März 2000 legte Tallone sein auf 3,7 Millionen Franken veranschlagtes Restaurierungsprojekt vor. Doch konnte sich die Gemeinde bis heute nicht zu einer Sanierung durchringen - und dies obwohl die im Herbst 2001 in Ascona veranstaltete und soeben auch in Venedig mit Erfolg gezeigte Weidemeyer-Retrospektive ein breites Interesse am Schaffen dieses Künstlerarchitekten deutlich machte. Nachdem der Kanton Tessin und der Bund Ende 2002 zusammen rund 1,3 Millionen Franken für die Restaurierung in Aussicht gestellt haben, könnte nun das reiche Ascona mit geringem Aufwand zu einem baukünstlerischen Juwel von internationaler Bedeutung kommen. Bis jetzt wollten die Politiker das Geld für die Renovation aber nicht bewilligen, mit der fadenscheinigen Begründung, zuerst müsse die Nutzung definiert und deren Finanzierung gesichert sein. Dabei wäre die Rettung des Gebäudes das Vordringlichste. Was in Bellinzona und Chiasso mit dem Teatro Sociale und dem Cinema Teatro gelang, sollte doch auch in Ascona möglich sein. Leise Hoffnung weckt nun ein neuer, finanziell realistischer Nutzungsvorschlag, der neben Tanz- und Theateraufführungen auch Konzerte und Tagungen vorsieht, wobei eine Zusammenarbeit mit Bellinzona und Chiasso, aber auch mit dem ETH-Kongresszentrum denkbar wäre. Sollte dieser Vorschlag im Gemeinderat auf taube Ohren stossen, so wäre mit dem Teatro San Materno ein Gesamtkunstwerk der «Monte- Verità-Kultur» ernsthaft in Gefahr.

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