Artikel

Atemlos am Rand der Stadt
Spectrum

Es gibt Wohnanlagen, an denen beeindruckt vor allem die Statistik. Beispiel Wien-Süßenbrunn: Auf mehr als einem Kilometer Länge 900 Wohnungen, an denen elf Architekten und Teams geplant haben. Das Ergebnis: viel Architektur zum Wegschauen.

29. Juli 1995 - Liesbeth Waechter-Böhm
Es gibt Wohnanlagen, an denen beeindruckt zunächst und vor allem die Statistik. Wenn so eine Stadtrandsiedlung schon einmal von sich behaupten kann, daß sie allein an Länge mehr als einen Kilometer aufzuweisen hat, das ist doch was! Auch der Flächenverbrauch kann sich sehen lassen: immerhin 17 Hektar. Und der Anzahl der Wohnungen – rund 900 – entspricht in diesem Fall nicht nur die zahlreich gerade Einzug haltende Bewohnerschaft – es sind an die 2600 Menschen –, nein, „östlich der Süßenbrunner Straße“ waren auch gleich sieben „Bauherren“ (sprich: Bauträger, Genossenschaften) am Werk und nicht weniger als elf Architekten und Teams.

Und diese Statistik läßt sich, ganz ohne alle Ironie, noch fortsetzen. Otto Häuselmayer wurde im Sommer 1991 beauftragt, ein städtebauliches Leitprojekt und einen Strukturplan zu entwickeln, der die Grundlagen für eine Änderung des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes liefern sollte; im Herbst 1991 waren schon alle beteiligten Architekten fleißig am Entwerfen; im Wiener Gemeinderat ging der Beschluß des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes im Frühjahr 1992 über die Bühne; im Sommer und Herbst desselben Jahres waren alle behördlichen Einreichverfahren abgewickelt; Anfang 1993 wurde mit der Realisierung begonnen; jetzt schreiben wir Sommer 1995, und die Wohnanlage ist bewohnt.

Derart zügig wurde selten etwas dieser Größenordnung aus der grünen Wiese der Wiener Peripherie gestampft. Und das kann wiederum nur heißen: Wenn bloß die richtigen Leute in der Wiener Stadtpolitik etwas Bestimmtes wollen, dann kommt es blitzartig zustande.

„Östlich der Süßenbrunner Straße“: Das ist nicht weit von Wiens großer Mülldeponie, die Gegend ist also keine Sensation. Die neue Wohnanlage schließt an ein recht wild und sehr heterogen gewachsenes Siedlungsgebiet an, das sich bis zum Badeteich von Hirschstetten erstreckt. Dieser einzigen „Besonderheit“ weit und breit, diesem immerhin so etwas wie Identität stiftenden Merkpunkt in der Landschaft trägt das städtebauliche Leitprojekt von Häuselmayer Rechnung. Die „Mitte“ seiner Anlage ist aus der tatsächlichen Mitte asymmetrisch verrückt, wodurch eine direkte Verbindung zum Teich entsteht.

Diese Mitte kann sich übrigens sehen lassen: Sie ist um eine „harte“, städtische Platzfläche organisiert, auf der temporär auch ein Markt abgehalten werden soll, und um einen Grünbereich – einen „Stadtpark“, wie es in den frühen Projektbeschreibungen etwas dramatisch heißt. Rund um diese Freiflächen sind nicht nur kleine Geschäfte und Gastronomie angesiedelt, sondern auch eine Schule des „Ateliers 4“ und ein Kindergarten von Melicher/Schwalm-Theiss mit Gressenbauer – womit auch schon die meisten architektonischen Highlights dieser Anlage genannt sind. Damit sind wir bei jenem gravierenden Problem, das vielen größeren Wiener Wohnanlagen der letzten Jahre gemeinsam ist. Es steckt oft (nicht immer, siehe Brünner Straße) echte Ambition im Städtebau, in der überlegten Differenzierung zwischen öffentlichen und halböffentlichen Bereichen, in der Definition von Freiflächen und Höfen. Es wird an eine Bereicherung des Wohnkomforts durch kleine Gärten, Terrassen, Balkone, Loggien gedacht. Es herrscht Ruhe, weil Fußläufigkeit die Regel ist, sodaß auch von daher der Wohnwert stimmt. Aber es ist und bleibt schier unbegreiflich, wieso es immer die falschen Architekten sind, die die dicksten Aufträge an Land ziehen.

Dabei hat Häuselmayer sein städtebauliches Konzept für diesen Ort, der ja kein Ort im engen Sinn, sondern bloß Gegend war, maßgeschneidert. Die Anlage ist links und rechts eines viereinhalb Meter breiten Fuß- und Radwegs entwickelt, der sich mit mildem Schwung über das Areal schlängelt. Entlang der Süßenbrunner Straße blocken massive Riegel das dahinter liegende Wohngebiet wie ein Schutzwall ab.

Die Bebauungsstruktur selbst ist innerhalb eines sinnvollen, fußläufigen Erschließungsnetzes abwechslungsreich gestaltet. Die gesamte Bebauung ist dreigeschoßig gehalten – es gibt also keine Lifte – und gerade so dicht, daß sie sich eindeutig als urbanes Wohngebiet ausweist und doch noch soviel Privatheit auch in Freiräumen bietet, wie man für ein angenehmes Wohnen an der Peripherie beanspruchen kann.

Häuselmayer ist natürlich weder als Städtebauer noch als Architekt jemand, der das riskante, womöglich innovative, jedenfalls auffällige Statement sucht. Das mag nicht jedermanns Sache sein. Aber wenn man Wohnbau als den durchgehenden Hintergrundprospekt der Bühne Stadt betrachtet – das schließt einzelne Akzente keineswegs aus –, von dem sich öffentliche oder sonstwie speziell bedeutsame Gebäude abheben, dann kommt gerade seinen Arbeiten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.

Das demonstriert er mit seinen eigenen Wohnhäusern „östlich der Süßenbrunner Straße“ (ingesamt 70 Wohnungen) souverän. Sicher, er erlaubt sich keinen zeitgeistigen Schnörkel und kein modisches Aperçu. Die Häuser sind sehr schlicht, sehr zurückhaltend, dabei auf eine ernsthafte Weise modern.

Die interne Erschließung eines Wohnhauses – jenes Bereiches, in dem immerhin noch so etwas wie Gemeinschaft stattfinden mag – hat Häuselmayer zur hohen Kunst entfaltet. Last, not least: In diesen Häusern, die wirklich zum Besten gehören, was sich „östlich der Süßenbrunner Straße“ aufspüren läßt, wurde auch bei den Grundrissen nicht geschludert. Und das ist sicher mehr, als sich von vielen anderen Wohnbauten dieser Anlage sagen läßt.

Es ist keine Übertreibung: Was hier an Architekturderivaten versammelt ist, das kann einem den Atem rauben. Nichts gegen die ein wenig skandinavisch angehauchten „Solarhäuser“ von Rudolf Guttmann. Nichts auch gegen die Wohnbauten und den Kindergarten von Melicher/Schwalm-Theiss mit Gressenbauer – einem im Wohnbau schon sehr erprobten Team. Dann gibt es, wie gesagt, noch die Schule des „Ateliers 4“. Beim – gewaltigen! – Rest dieser Wohnanlage aber würde man am liebsten wegschauen.

Rhetorisch gefragt: Wie geht das zu? Immerhin wurden diese Wohnbauten von einem Fachgremium abgesegnet, dem unter anderen die Architekten Hufnagl und Wimmer und die Stadträte Swoboda und Edlinger angehörten. Andererseits: Ein junger, sehr ambitionierter Architekt hat mir einmal erzählt, er habe bei der Stadt Wien angefragt, ob es nicht einen kleinen Wohnbau, eine Baulücke für ihn gebe. Der betreffende Magistratsbeamte habe darauf sinngemäß geantwortet: Jetzt habe er – Hausnummer – 30 Architekten beigebracht, wie man für die Stadt Wien baue. Einem 31. bringe er es nicht mehr bei. Wie es zugeht? Offenbar gerade so.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: