Artikel

Im Schatten des Wolkenbügels
Neue Zürcher Zeitung

El Lissitzky: eine Ausstellung in Hannover

Maler, Architekt, Designer, Typograph und Photograph in einer Person, zählte El Lissitzky (1890-1941) zu den beweglichsten Künstlern der russischen Avantgarde. Das Hannoveraner Sprengel-Museum präsentiert derzeit sein mittleres und spätes Œuvre.

23. Februar 1999 - Ursula Seibold-Bultmann
Im Jahr 1919 verlegte die Kulturliga in Kiew elf poetische Farblithographien mit dem Titel «Eine Ziege». Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, ihr Schöpfer sei Marc Chagall. In Wahrheit stammen sie von El Lissitzky, der sich in seiner frühen Zeit intensiv an der Wiederbelebung jüdischer Kultur in Russland beteiligte und im genannten Jahr mit Chagalls Hilfe als Dozent an die Volkskunstschule in Witebsk berufen wurde. Dort verwandelte ihn der polarisierende Einfluss von Kasimir Malewitsch abrupt in einen Protagonisten der geometrischen Abstraktion. Für seine Gemälde, Aquarelle, Graphiken und Collagen der folgenden fünf Jahre prägte er den Neologismus «Proun» (Projekt für die Gründung neuer Formen der Kunst) und fand dank diesen hochsensiblen, fast ausschliesslich ungegenständlichen Kompositionen unverzüglich Eingang ins Pantheon der klassischen Moderne.

Ende der Abstraktion

Schon um 1921 jedoch zeigten sich in der schwerelosen Welt der Prouny erste Risse: In seine Entwürfe für die Illustrationen zu Ilja Ehrenburgs «Erzählungen mit leichtem Schluss» fügte Lissitzky neben abstrakten auch wieder figürliche Elemente ein. Auf einem dieser Blätter fixiert Wladimir Tatlin, durch einen riesigen Zirkel im Auge sowie durch mathematische Formeln etwas ostentativ als Konstrukteur neuer Welten definiert und von der Vision seines «Monuments der Dritten Internationale» beseelt, ein räumlich hochkomplexes geometrisches Gebilde; im leeren Raum darüber schwebt sprachlos das Fragment eines Frauengesichts, gehalten nur von einem horizontalen roten Balken.

Scheint Tatlins revolutionäre Zukunft hier noch mit der Entwicklung der Abstraktion verzahnt, so verliess Lissitzky selber diesen Pfad bald. Seit 1924 befasste er sich statt mit abstrakten Bildern vor allem mit photographischen Experimenten; daraus resultierten zum Beispiel mehrfachbelichtete Porträts von Kurt Schwitters und Hans Arp. 1924-26 folgte der Entwurf des atemberaubenden «Wolkenbügels» - eines dreiflügeligen Bürohauses, das auf Stelzen über den Strassen Moskaus schweben sollte. Anderthalb Jahrzehnte später endete die künstlerische Laufbahn des Russen mit dem Layout von Photoreportagen und Titelblättern für die Propagandazeitschrift «USSR im Bau», auf welch letzteren zum Beispiel ein Arbeiter und ein Bauer mit jugendlicher Emphase die sowjetische Fahne über Stalins Rednerpult schwingen oder ein in Bessarabien einmarschierter, mit Gewehr und Blumenstrauss ausgerüsteter Rotarmist ein schüchtern lächelndes kleines Mädchen auf dem Arm trägt.

Thema der Hannoveraner Schau ist Lissitzkys Schaffen ab dem Zeitpunkt, als er sich von der Abstraktion abzuwenden begann. An die Aussagekraft geballter Materialfülle glaubend, hat die New Yorker Gastkuratorin Margarita Tupitsyn über 300 Exponate aus privaten und öffentlichen Sammlungen zwischen Moskau und Los Angeles zusammengetragen. Einleitend dokumentiert eine kleine Werkauswahl die noch überwiegend abstrakten Projekte Lissitzkys aus den Jahren 1921-23, als er sich in Berlin und Hannover aufhielt. Seit dem Ende seiner dortigen Zeit litt er an Lungentuberkulose, und die Qualität seiner nunmehr gegenständlichen Arbeiten wurde schmerzhaft heterogen. In der Ausstellung kann man an Dutzenden von Beispielen sehen, dass er als Photograph und Schöpfer von Photogrammen weder mit der formalen Kühnheit László Moholy- Nagys oder Alexander Rodtschenkos noch mit dem Einfallsreichtum Christian Schads oder Man Rays konkurrieren konnte. Hat man sich beim Blättern in Lissitzkys frühen Buchillustrationen einmal die geistreiche Dynamik seiner damaligen Bildfolgen erschliessen können, so schnürt einem der Anblick der propagandistischen Photomontagen aus den dreissiger Jahren dann vollends die Kehle zu.

Lissitzky war nicht der einzige Künstler der sowjetischen Avantgarde, der seine Arbeit in den Dienst Stalins stellte; für «USSR im Bau» arbeiteten zum Beispiel auch Rodtschenko und Warwara Stepanowa. Bis vor kurzem wurden die einschlägigen Werke von Apologeten der Moderne gern mit dem Mantel des Schweigens verhüllt. Dass mittlerweile auf Grund veränderter politischer und wissenschaftlicher Rahmenbedingungen sämtliche Schaffensphasen der Avantgardisten breit in den Blick rücken, bedeutet für Historiker und Biographen zweifellos einen Erkenntnisgewinn. Inwieweit ist dieser aber auch wesentlich für die Geschichte der Kunst?

Wissenschaftliche Leerstellen

Weder in der Ausstellung noch im Katalog gelingt es Margarita Tupitsyn, Kriterien für die Unterscheidung zwischen Kunstwerken und blossen visuellen Dokumenten zu finden. Darüber hinaus umschifft sie auch die Mehrzahl der übrigen zentralen Fragen, die von ihren Exponaten aufgeworfen werden (Ulrich Pohlmanns Katalogbeitrag über den Einfluss von Lissitzkys Ausstellungsdesign der Jahre 1928/30 auf faschistische Propagandaausstellungen bietet hier nur punktuellen Ausgleich). Wenn sie etwa schreibt, sie wolle in ihrem Essay «keine strukturelle oder ikonographische Analyse von Lissitzkys photographischem Spätwerk» liefern, und statt dessen seitenlang die Auswirkungen seiner Krankheit auf seinen Arbeitsalltag kommentiert, so wird sie der öffentlichen Verantwortung der Kunstgeschichte angesichts einer ideologischen Bildsprache nicht gerecht; da hilft auch kein Mini-Verweis auf eigene sowie durchaus kommentarbedürftige fremde Sekundärliteratur. Die Beiträge Russlands zur Kunst der Moderne sind so bedeutend, dass sie es vertragen und verdienen, von der Kunstwissenschaft mit aller Klarheit reliefiert zu werden.

[In Hannover bis 5. 4.; vom 1. 7. bis zum 5. 9. im Museu d'Art Contemporani de Barcelona und vom 16. 9. bis zum 7. 11. in der Fondaçao de Serralves, Porto. Katalog (239 S, über 200 Farb- und Schwarzweissabb.) DM 58.-. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: