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Ein Revolutionsarchitekt mit lädiertem Ansehen
Neue Zürcher Zeitung

Zum 200. Todestag von Etienne-Louis Boullée

30. Januar 1999 - Adolf Max Vogt
Europäer und Nordamerikaner lieben die Beginner einer Epoche, die Eröffner, jene, die den Vorhang aufreissen zu einem neuen Horizont. Etienne-Louis Boullée gehört fraglos zu ihnen. Er ist wirklich der Erste, der Eröffner der modernen Architektur. Doch schon ein Jahr nach seinem Tod wurde ihm «Mégalomanie» vorgeworfen - und unter diesem Vorwurf ist sein Werk vergessen worden. Das scheint paradox, denn jeder von uns pilgert doch gierig ein erstes Mal nach Manhattan, um endlich den gebauten Gigantismus und seine Strassenschluchten am eigenen Leib zu erfahren.

Die Meister der ersten Stunde der Avantgarde unseres Jahrhunderts - Matisse, Klee, Le Corbusier, Picasso, Mondrian, Loos, Kandinsky - werden von den westlichen Kunstfreunden in höchsten Ehren gehalten. Denn jeder von ihnen hat etwas «Erstes» gemacht. Und das zählt für ein fortschrittsbeglücktes und zugleich fortschrittsgepeinigtes Publikum enorm. Das «Erste» ist, um es im heutigen Jargon zu sagen, die härteste Währung, welche der kulturinteressierte Westen zu vergeben hat. Etienne-Louis Boullée hat diese Forderung eindeutig erfüllt; er gehört zu den grossen Innovatoren. Aber die Welt nimmt seine Offerte nicht gern an. So ist er aus der Erinnerung abgestürzt. Hat der französische Architekt (geboren am 12. Februar 1728, gestorben am 16. Pluviose de l'An VII = 4. Februar 1799) einen Verstoss begangen oder - schlimmer noch - ein Tabu verletzt?

Solange wir ihn ausschliesslich als Baumeister sehen und nicht immer auch als Weltbühnenbildner, als Porträtisten des damals neuen Universums und als Architekturmaler, bleibt es schwer, ihn zu akzeptieren. So hat er mehr Mühe mit der Nachwelt als ein Claude-Nicolas Ledoux und Jacques Gondoin oder Nicholas Hawksmoor und John Soane, nicht zu reden von Friedrich Gilly oder gar Schinkel, obwohl Boullée gerade auf diese beiden deutlich eingewirkt hat. Doch schon im Jahr 1800, also kurz nach seinem Tod, hat ihm Charles-François Viel den Vorwurf der «Mégalomanie» gemacht. Dieser Vorwurf traf, und zwar so sehr, dass er Boullée und sein Vorhaben bald an den Rand getrieben hat.

Vergessen und wiederentdeckt

Als der Österreicher Emil Kaufmann, mehr als ein Jahrhundert später, 1933, seine Wiederentdeckung der französischen Revolutionsarchitektur ankündigt, findet er den klanglich gewitzten Titel «Von Ledoux bis Le Corbusier». Eine Abbildung erhalten allerdings weder Boullée noch Le Corbusier in diesem schlanken Band, und wenn ich mich richtig erinnere, werden sie im Text auch nicht erwähnt. Kaufmann scheint damals das volle Profil von Boullée noch nicht zu kennen und noch nicht abschätzen zu können, wie viel Ledoux dem acht Jahre Älteren verdankt. Von heute aus gesehen lässt sich geradezu behaupten, Boullée habe die Themen gesetzt und Ledoux hierauf die Variationen dazu ausgeformt.

Nach der Emigration in die USA bekam Kaufmann die Möglichkeit, seine Forschung breiter anzulegen. Fortan stellte er das, was er als «Autonome Architektur» bezeichnet, unter das Triumvirat von Boullée, Ledoux und Jean-Jacques Lequeu. Sein Hinweis auf Boullées Nachlass in der Bibliothèque nationale, Paris, wird von Helen Rosenau aufgenommen. Sie vertieft sich in das Hauptstück des schriftlichen Nachlasses, betitelt als «Architecture Essai sur l'Art», und erkennt es als theoretisches Vermächtnis. Sie entziffert die Handschrift und publiziert sie in der Originalsprache, mit englischem Kommentar (London 1953; deutsche Übersetzung mit neuem, erweitertem Kommentar, herausgegeben von Beat Wyss, Zürich 1987).

Auf diese Weise wird Boullées Name zum zweitenmal belebt, bis in die sechziger Jahre hinein erfolgt die Spurensicherung, von 1968 bis 1971 zirkulieren Ausstellungen in den Vereinigten Staaten und in Deutschland. Doch Ledoux' Profil bleibt bekannter als das von Boullée. Die Variationen von Ledoux, auch wenn sie übermütig auf Stelzen gehen oder mitunter hohl tönen, werden verziehen und als kühn taxiert. Boullées radikaler Grössenanspruch hingegen und sein radikales Beharren auf der zweiten Funktion von Architektur, der Funktion nämlich, im monumental gemeinten Gebäude die Weltordnung zu spiegeln (so wie es Pyramiden und Tempel tun) - sie lösen Widerstände aus, wecken Bedenken. Und diesen Bedenken soll hier nachgegangen werden. Doch zunächst muss, damit der Dialog zwei Pole bekommt, ein neues Licht geworfen werden auf unsere eigenen Positionen als Betrachter im Jahre 1999.

Boullées berühmtester Entwurf, der kugelförmige Kenotaph für Isaac Newton von 1784, wird nicht selten in die Nähe gerückt zu einer Sensation jener Tage, dem ersten Aufstieg einer bemannten Montgolfière, von Versailles aus, im Jahr 1783. Wir blicken zurück von weit her, nämlich aus der zweiten Generation der Mondfahrer. Wir beobachten den Newton-Kenotaph bereits von der Kehrseite des Mondes her. Alles ist erreicht - die Mondlandung und ihre Vorbedingung, die Schwerelosigkeit. Und dies alles scheint sich seit einigen Jahren zu rasendem Schrott zu verwandeln. Ein Wegwerfskandal am Himmel bahnt sich an, seit die amerikanische Regierung nicht nur mit «Star Wars» gedroht hat, sondern die Astronautik später freigab für den Markt.

Schweben im All

Die alten Träume vom Schweben im All sind seit 1969 dramatisch eingeholt und in Techno- Realität verwandelt worden. Doch diese heroische Phase blieb kurz, und die jetzt in Trab geratene kommerzielle Phase mit sausendem Wegwerfmüll und heulendem Techno-Schrott wird lange währen. Die heutige Verunstaltung der Aura der Erde kommt einem wie bitterer Hohn vor auf Walter Benjamins Bemühung, das alte Wort «Aura» in die moderne Welt zu retten. Begegnet man einem Buchtitel wie «Die Vollzähligkeit der Sterne», der eine «Sammlung astronoetischer Glossen» von Hans Blumenberg (postum) bekanntmacht, fühlt man sich betroffen von einer romantischen Poesieformel, die jetzt nur noch sarkastisch aufgenommen werden kann. Sieht man in einer Ausstellung wie «Böcklin - De Chirico - Max Ernst» (Kunsthaus Zürich, Winter 1997/98) eine kleine Gouache mit bleichem Sternenhimmel, unter dem ein Mann sich seiner Kleider entledigt, um sich leiblich eins zu fühlen mit dem All -, dann weicht man zurück und glaubt sich verirrt. Indessen: die Gouache ist tatsächlich von Giorgio De Chirico, datiert auf 1968 - er war damals achtzig und betitelte das Stück als «Ekstasis». Das war, ja, das war einmal. Soll man sagen: der letzte gemalte Sternhimmel, gerade noch eingebracht vor der Mondlandung?

Was den Sternhimmel betrifft, den Blick ins Dunkel der Tiefe: dieser Blick kann nicht anders als unter der Erfahrung des Sublimen, des Erhabenen geschehen - ob man derartige Bezeichnungen nun als veraltet oder als halb anrüchig bewertet, gleichviel. Doch Tumult ist angesagt, erst recht, seit uns zu Häupten Müll und Schrott ihre Bahn ziehen. Verblüffend ist nur, dass ausgerechnet jetzt, wo die Widerstände aus einsehbaren Gründen derart erhöht sind, eine Gruppe von Philosophen für eine neue Würdigung des Erhabenen sich einsetzt. Und zwar nicht durch literarische oder musikalische Vermittlung, sondern durch Vermittlung der Bildkunst und Architektur.

Der Amerikaner Richard Rorty fasst in seiner Berliner Rede vom Mai 1998 (abgedruckt in: NZZ 15. 8. 98) nur zusammen, was den Franzosen Jean-François Lyotard seit Jahren umgetrieben hatte und was in Deutschland von Wolfgang Welsch, Christine Pries, Klaus Poenicke und mehreren anderen stets auch auf Adorno zurückgeführt wird. Gerade weil Adorno zur Überzeugung gelangt, dass Kunst sich «immer mehr im Moment des Erhabenen zusammenzieht» und dass dieser «Moment» es ist, der das Kunstwerk «zum Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge» macht. Deshalb wehrt Adorno das «Hohl Erhabene» mit Entschiedenheit ab und wendet sich ebenso entschieden gegen das «Heroisch Erhabene», um diesen «Statthalter» aus dem «Raster von Macht, Übermacht und Bemächtigung» herauszuheben.

Boullée erlebt den Quantensprung in die neue Raumtiefe als Ereignis des naturwissenschaftlichen Aufschwungs seit dem 17. Jahrhundert und als Folge der Erfindungen des Fernrohrs (seit 1610) und des Mikroskops (seit 1590). Isaac Newton, der britische Mathematiker, Physiker und Astronom, erscheint ihm als der überragende Geist, der die neue Erkenntnis zusammenzufassen und zu überwölben vermochte. Newtons Texte kann er nicht selber lesen. Aber er findet einen Vermittler: Jean-Silvain Bailly, den Astronomen, der als Freund von Georges Danton in den Revolutionsjahren das Amt des Bürgermeisters von Paris übernimmt und ein Jahr vor Danton, 1793, wie dieser auf dem Schafott hingerichtet wird. Baillys dreibändige «Histoire de l'Astronomie moderne», 1782 von der Académie des Sciences approbiert, schafft Boullée sich an. Eine gut lesbare Gesamtdarstellung. Im 12. Buch, das Newton gewidmet ist, überrascht Bailly mit der Vorfrage, wie man sich überhaupt angemessen über ihn äussern könne. Über ihn, Newton, der «das Chaos überwunden», «Licht von Finsternis getrennt» habe. So ist es Bailly, der Boullée zum entscheidenden Impuls verhilft, für Newton einen Kenotaph zu entwerfen (1784). Es wird sein Hauptwerk, wie er im Rückblick seines «Essai sur l'Art» selber vermerkt.

«Architecture Majeure»

Als Dozent an der Architekturschule der ETH hat Aldo Rossi seinen Studenten die für ihn wichtige Grundunterscheidung zwischen «Architecture majeure et mineure» nahegebracht. Das, was Pyramiden und Tempel waren, ist für ihn nicht erloschen, denn es taucht auf, da und dort, in anderen Gattungen. Und soll unterschieden werden von der Architektur der Unterkunft, dem Wohnwesen. Die wohl einprägsamste Formulierung zur «Architecture majeure» stammt von Palladio. Dieser schreibt in der Einleitung zum vierten Buch: «Und wenn wir dieses Gebilde der Welt betrachten . . . können wir nicht zweifeln, dass die kleinen Tempel, die wir machen, ähnlich sein sollten jenem ganz grossen (Tempel), welcher vollendet worden ist durch ein einziges Wort Seiner unendlichen Güte (che dovendo esser simili i piccoli Tempii, che noi facciamo, à questo grandissimo . . .).»

Boullée hielt es für selbstverständlich - und das kann man einstufen als grandiose Naivität -, dass er nun auch für den neuen, durch Quantensprung ins Riesengrosse entfalteten «Gravitations-Tempel» eine Similarität, eine Ähnlichkeit, finden könne. Das richtige Abbild hierfür schien ihm die Kugel mit Stollen in der Kalotte, durch die das Aussenlicht eindringt und im dunklen Innenraum wie Sternlicht wirkt. Diese eine Idee der Kugel mit irregulären Lichtstollen für Sterneffekte und die andere Idee der Treppenläufe auf den steilschrägen Böschungshalden der Pyramiden sind besonders wichtige Prägungen im damals neuartigen Formenvokabular von Boullée. Diese Schrägtreppen, halb verglimmend in der Spannung zwischen riesenhaft und winzig, tauchen auf, kreuzen sich diagonal und verschwinden wieder - vergleichbar jenen «Haupt- und Nebenwegen», in denen Paul Klee dieselbe Aufgabe löst, neue Proportionen für neue Grössenordnungen zu suchen.

Rossi und Ungers

Neben Rossi ist auch Oswald Mathias Ungers einer der Architekten, die sich immer wieder auf Boullée bezogen haben. Als er den Auftrag bekam, für die Hamburger Kunsthalle ein drittes Gebäude zu errichten, stellte er - mitten im Getöse einer sechsstrahligen Stadtautobahn und einer zwölfstrahligen Auffächerung von Bahngeleisen - seinen weissen Kubus auf ein Podium aus geböschtem rotem Granit. In diese Böschungen legte er gestaffelt schräge Treppen, so wie sie Boullée konzipiert, aber nie gebaut hatte. Diese Schrägtreppen münden als Rampen auf einem quadratischen Pyramidenstumpf, der als Platz weder Sinn hat noch Funktion erfüllt, doch gerade deshalb (mitten im Getöse) die Leute architektonisch weckt. Die Hamburger haben geknurrt und gebellt - aber sie haben Ungers machen lassen. Von Boullée aus kann man Ungers mühelos verstehen. Und Ungers wird wohl dem einen oder andern helfen, von Hamburg aus Boullée zu verstehen.

Alle jene, die als Kind unter dem Nachthimmel mit der Sternsaat eine kaum formulierbare Erfahrung machten und diese später, wie Julien Green, als «la plus importante minute de ma vie» zu begreifen lernten - sie können diese «Minute» im Besten von Boullées Entwürfen wiederfinden: Verlorenheit im Winzigen wie in der ruchlosen Grösse des Weltraums. Sich selber verlierend und wieder gewinnend unter dieser kosmischen Ferne. Und dadurch voller Bewusstsein von Existenz.

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