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85 Mi­nu­ten Glück und Neid
Der Standard

Der Film „The In­fi­ni­te Hap­pi­ness“ von Ila Bê­ka und Loui­se Le­moi­ne ist mehr als nur ein Do­ku­men­tar­film über ir­gend­ein Wohn­haus in Ko­pen­ha­gen. Er ist ei­ne Ode an die so­zia­le Macht von Ar­chi­tek­tur – und hof­fent­lich ei­ne An­re­gung für Po­li­tik und Bau­wirt­schaft.

23. Januar 2016 - Wojciech Czaja
In der 21. Mi­nu­te wan­dert Schaf Nr. 00214 durchs Bild, macht laut Mää­äh, als wür­de es die Ka­me­ra weg­blö­ken wol­len, und tum­melt sich dann mit sei­nen drei Dut­zend Woll­freun­den durchs Gat­ter, um hier drau­ßen auf der Step­pe das Abend­mahl zu sich zu neh­men. Das tau­send­fach pu­bli­zier­te Haus, das im Hin­ter­grund in die Hö­he ragt und um das sich die gan­ze Welt schon seit Jah­ren reißt, ist Nr. 00214 herz­lich egal. Senkt den Kopf, wid­met sich dem Fut­ter, und Schnitt.

The In­fi­ni­te Hap­pi­ness ist nicht nur ein fil­mi­sches Por­trät des 2011 er­rich­te­ten und mehr­fach preis­ge­krön­ten Wohn­hau­ses „Eight Hou­se“ in Øres­tad, ir­gend­wo am äu­ßers­ten Stadt­rand von Ko­pen­ha­gen, son­dern auch ein un­ge­wöhn­lich tie­fer Ein­blick in das all­täg­li­che Le­ben der hier woh­nen­den Men­schen mit­samt ih­ren Hob­bys, Ri­tua­len und do­mes­ti­zier­ten Tie­ren.

So hält sich dann auch die Ver­wun­de­rung in Gren­zen, wenn in Mi­nu­te 39 plötz­lich Erik auf die Büh­ne tritt und sei­nem künf­ti­gen, der­zeit noch gra­sen­den Rin­der­steak zärt­lich und auch ir­gend­wie ap­pe­ti­tan­ge­regt auf den Bauch klopft. Erik ist Mit­glied der Vieh­zucht-Ge­nos­sen­schaft hier im Hau­se und so­mit ei­ner von rund 100 Haus­hal­ten, die zu­sam­men 20 Bio­kü­he un­ter­hal­ten, um sie am En­de des Jah­res zu schlach­ten und das Fleisch auf die Ge­nos­sen­schaft auf­zu­tei­len. „Ja, in die­sem Haus ist al­les an­ders. Es ist wie ein Berg­dorf ge­baut. Das lässt uns al­le nä­her rü­cken. Wir sind ir­gend­wie so­zia­ler.“

Es ist ge­nau die­ses ge­mein­schaft­li­che Woh­nen und Han­deln, das im Film The In­fi­ni­te Hap­pi­ness den Zu­schau­er 85 Mi­nu­ten lang so wun­der­bar be­rührt. Wäh­rend sich die Dis­kuss­ion über die Zu­kunft des Wohn­baus in Ös­ter­reich meist in der Mö­bel­aus­stat­tung un­de­fi­nier­ter Mehr­zweck- und Ge­mein­schafts­räu­me er­schöpft, ga­lop­piert das Eight Hou­se des dä­ni­schen Ar­chi­tek­tur­bü­ros Bjar­ke In­gels Group (BIG) mit sei­nen 476 Woh­nun­gen und sei­nem mehr als ei­nen Ki­lo­me­ter lan­gen Rad­weg, der sich bis in den zehn­ten Stock hoch­schraubt, schnur­stracks in den Olymp der viel­zi­tier­ten so­zia­len Nach­hal­tig­keit. Und man starrt mit ei­ner or­dent­li­chen Por­ti­on Neid auf die Lein­wand.

„Ich muss ge­ste­hen: Zu Be­ginn war es die Ar­chi­tek­tur, die Äs­the­tik die­ses Hau­ses, die uns fas­zi­niert hat“, sagt die Pa­ri­ser Film­ema­che­rin Loui­se Le­moi­ne. Ge­mein­sam mit ih­rem Part­ner Ila Bê­ka macht sie Do­ku­men­tar­fil­me, sehr lus­ti­ge so­gar, über meist pro­mi­nen­te, welt­be­kann­te Bau­ten. Nach ih­rem De­büt Ko­ol­haas Hou­se­li­fe im Jahr 2009, in dem sie ein be­rühmt­es Ein­fa­mi­li­en­haus des Pritz­ker­preis­trä­gers Rem Ko­ol­haas aus der Sicht der Putz­frau Gua­da­lo­pe vor­stellt, folg­ten Fil­me über das Gug­gen­heim-Mu­se­um in Bil­bao so­wie über Mu­se­en, Kir­chen und Feu­er­wehr­sta­tio­nen von Ren­zo Pia­no, Ri­chard Mei­er und Her­zog & de Meu­ron.

„Doch bei die­sem Film war al­les an­ders“, er­in­nert sich Le­moi­ne. „Wir sind für ei­nen Mo­nat hier ein­ge­zo­gen, ha­ben mehr oder we­ni­ger Woh­nung ge­tauscht mit ei­ner hier le­ben­den Fa­mi­lie und ha­ben das Haus in die­ser Zeit auf ei­ne Art und Wei­se er­lebt, die nicht nur lus­tig, in­ten­siv, aben­teu­er­lich, son­dern auch sehr be­rüh­rend war.“ Nach die­ser Er­fah­rung, meint die 34-jäh­ri­ge Film­ema­che­rin, ha­be man das Eight Hou­se nicht nur als in­no­va­ti­ves Bau­werk, son­dern in er­ster Li­nie als so­zia­les Kraft­werk ver­stan­den.

Er­mü­den­de Schön­heit

In 30 kur­zen Epi­so­den wird Bjar­ke In­gels’ Eight Hou­se mi­nu­ti­ös un­ter die Lu­pe ge­nom­men. Da gibt es den blin­den Chris­ti­an, der im Kel­ler al­te Kla­vie­re res­tau­riert, stimmt und für den Wei­ter­ver­kauf rüs­tet. Da gibt es Pal­le, sei­nes Zei­chens lei­den­schaft­li­cher Er­fin­der­geist, der je­den Tag mit dem Ein­rad die Ram­pe auf und ab fährt. Da gibt es Fa­mi­lie Zhu, die im Ne­bel steht und so wie je­den Tag ne­ben dem Haus Tai-Chi prak­ti­ziert. Da gibt es Git­te und Ma­ria, die zwei Blog­ge­rin­nen und In­stag­ram-Fo­to­gra­fin­nen, die in ih­rer Ar­beit die pu­re Ma­gie die­ses Bau­werks fest­zu­hal­ten ver­su­chen.

Und dann gibt es Je­sper, die­sen un­er­müd­li­chen Gärt­ner mit Kap­pe und Oh­ren­schutz, der mit sei­nem Ra­sen­mä­her je­de Bö­schung und je­den stei­len Te­le­tub­by-Hü­gel im In­nen­hof des Eight Hou­se zähmt. „Das Gärt­nern ist wirk­lich er­mü­dend hier“, sagt er, sicht­lich au­ßer A­tem, nach­dem er die Ma­schi­ne die me­ter­ho­hen Hü­gel Dut­zen­de Ma­le hin­auf­ge­scho­ben und hin­un­ter­ge­zo­gen hat. „Aber das Haus, das ist schön.“

Doch es ist nicht al­les ro­sig im Eight Hou­se, in die­sem Mek­ka der Ar­chi­tek­tin­nen und Stu­den­ten, die das Ge­bäu­de seit Er­öff­nung vor vier Jah­ren bus- und me­tro­wei­se strö­men. Claus und Vir­gi­nia ste­hen in ih­rem Pent­hou­se im letz­ten Stock und bli­cken et­was bö­se in die Ka­me­ra. „Manch­mal kom­men 70, 80 Men­schen die Ram­pe hoch, blei­ben vor un­se­rem Vor­gar­ten ste­hen und schau­en uns ins Wohn­zim­mer rein. Man­che von ih­nen be­tre­ten die Ter­ras­se und pflü­cken ein­fach un­se­re Ro­sen. Ich füh­le mich hier wie in ei­nem Zoo. Und ich bin rich­tig bö­se, denn vor sechs Mo­na­ten hat­te ich ei­nen Herz­in­farkt, und nun muss ich die Woh­nung aus ge­sund­heit­li­chen Grün­den ver­las­sen.“ En­de der Epi­so­de.

Bjar­ke, du ver­rück­ter Hund!

„Das Schö­ne an un­se­rer Ar­beit ist, dass wir mit der Rea­li­tät ar­bei­ten“, sagt die Re­gis­seu­rin. „Das ist et­was ganz an­de­res als ein Film über ei­ne frei er­fun­de­ne Sa­che. Mit je­dem Film, mit je­dem Zu­sam­men­kom­men mit den Men­schen ler­ne ich viel da­zu. Die Ar­beit öff­net mir die Sin­ne! Wenn Sie so wol­len, ist so ein Film – egal ob im Dre­hen, im Schnei­den oder ein­fach nur im Be­trach­ten – ein gu­tes Werk­zeug, um Vor­ur­tei­le und vor­ge­fass­te Ide­en und Mei­nun­gen ab­zu­bau­en. Mit je­der Mi­nu­te mehr.“

Und was sagt der Ar­chi­tekt höch­stselbst zu die­sem Film? „500 Woh­nun­gen, 1000 Be­woh­ner, das ist schon was“, meint Bjar­ke In­gels auf An­fra­ge des STAN­DARD . „Und so un­gleich wie die Woh­nun­gen sind auch die hier le­ben­den Men­schen. Der Film von Ila Bê­ka und Loui­se Le­moi­ne ist in mei­nen Au­gen ein Kunst­werk, das die so­zia­le Macht un­se­rer ge­bau­ten Um­welt so schön sicht­bar macht.“

13. Mi­nu­te. Bo­ris steht mit sei­ner Frau An­ne im Wohn­zim­mer, schwärmt vom Rad­weg vorm Fens­ter, von den of­fe­nen Woh­nungs­grund­ris­sen, von den Nach­barn, de­nen man hier auf Schritt und Tritt be­geg­net. Zu spä­ter Stun­de – drau­ßen ist es schon dun­kel ge­wor­den – gibt er vor lau­fen­der Ka­me­ra ein Ge­ständ­nis ab: „Hal­lo Bjar­ke, du ver­rück­ter Hund! Du hast hier et­was Un­glau­bli­ches ge­schaf­fen! Ich füh­le mich pri­vi­le­giert, an so ei­nem Ort le­ben zu dür­fen. Bjar­ke, ver­dammt noch mal, ich wünsch­te, ich könn­te mir dein ge­nia­les Hirn aus­bor­gen!“ So ein Kom­pli­ment soll­te, ver­dammt noch mal, als Ap­pell an die ös­ter­rei­chi­sche Wohn­bau­po­li­tik und Wohn­bau­bran­che ver­stan­den wer­den.

„The In­fi­ni­te Hap­pi­ness“ wird der­zeit auf in­ter­na­tio­na­len Film­fes­ti­vals in Ko­pen­ha­gen, New York, Chi­ca­go, Tel Aviv und Syd­ney ge­zeigt.

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