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Chandigarh überdenken
Neue Zürcher Zeitung

Le Corbusiers Ikone moderner Stadtplanung nach 50 Jahren

Vor 50 Jahren beschloss die Regierung Indiens die Gründung einer neuen Hauptstadt für den Gliedstaat Punjab: Chandigarh. Obwohl international häufig kritisiert, geniesst die «City Beautiful» in Indien einen vorzüglichen Ruf. Das explosive Bevölkerungswachstum schafft nun aber soziale und urbanistische Probleme, die dringend gelöst werden müssen.

5. März 1999 - Frank E. Strasser
Aus dem 1949 gefassten Entschluss der indischen Regierung, Chandigarh zu bauen, erwuchsen zwei Mythen: Die neue Hauptstadt Punjabs hat Symbolcharakter für die 1947 gewonnene Unabhängigkeit Indiens. Zugleich verkörpert sie die einzig realisierte Stadtplanung Le Corbusiers. Kein Wunder also, dass in den fünfziger und sechziger Jahren die internationale Architekturszene die Entwicklungen in Chandigarh, wo eine Regierung sich mit der architektonischen Avantgarde verbündet hatte, mit grossem Interesse verfolgte. Während Ludwig Mies van der Rohe in den USA mit seinen feinen, präzis detaillierten Stahl- und Glasbauten Zeichen setzte, schuf Le Corbusier in Indien das Gegenteil. Hier entstanden monumentale, expressive Gebilde aus rohem Sichtbeton mit wuchtigen Formen und plastisch modellierten Fassaden. Die Bauten für das Kapitol - den Sitz der Regierung - zählen zu Recht zu den Höhepunkten seines Spätwerkes. Hingegen wird in der überaus reichen Literatur zu Chandigarh Le Corbusiers Leistung als Stadtplaner kontrovers beurteilt. Vor wenigen Wochen fand - gleichsam zur Feier der Geburt Chandigarhs vor 50 Jahren - eine internationale Konferenz statt mit dem Ziel, den Entstehungsprozess Chandigarhs zu evaluieren und Vorschläge zur zukünftigen Stadtentwicklung zu diskutieren. Debattiert wurde aber auch über den Erfolg oder Misserfolg von Le Corbusiers moderner Planungsdoktrin.

Anthropomorpher Stadtplan

Über Jahrzehnte hatte Le Corbusier städtebauliche Studien angefertigt - allein für Algier waren es sieben Projekte -, die jedoch Papier geblieben sind. Erst 1950 eröffnete sich ihm unverhofft eine Chance, als er von indischen Regierungsvertretern beauftragt wurde, eine neue Hauptstadt für Punjab zu planen. Ausgangspunkt für seine Arbeit war ein von der Regierung schon im Jahr zuvor beim amerikanischen Architekten Albert Mayer in Auftrag gegebener Masterplan. Innerhalb weniger Tage modifizierte Le Corbusier Mayers Vorlage und fertigte einen neuen Plan an: Die Grundfläche wurde reduziert und die fächerförmige Figur des Stadtgrundrisses zum Rechteck korrigiert. Zudem verhalf er den Prinzipien der Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM), insbesondere den 1933 in der Charta von Athen aufgestellten Richtlinien zu ihrem Recht. Diese verlangten die Trennung der vier Basisfunktionen der Stadt (Wohnen, Arbeiten, Erholung, Zirkulation), die Aufteilung in autonome Sektoren sowie eine siebenstufige Hierarchie des Strassensystems. Die Grundkonzeption bewältigte Le Corbusier sehr effizient; die genauere Ausarbeitung und die Entwurfsarbeit für die städtische Infrastruktur überliess er seinem Cousin Pierre Jeanneret sowie seinen Mitarbeitern Jane Drew und Maxwell Fry, die das örtliche Planungsteam leiteten.

Zwei Punkte der Standardkritik zu Chandigarh, die auch auf der erwähnten Konferenz diskutiert wurden, betreffen die «undemokratische» Distanz des Regierungszentrums von der Stadt und die exzessiven Dimensionen des Kapitolskomplexes, der den räumlichen Zusammenhang der Gebäude verhindere. Darauf ist zu antworten, dass Le Corbusier nicht in politischen Parametern dachte. Sein Interesse galt vielmehr einer grundlegenderen Einordnung des Menschen. Seine anthropomorphen Vorstellungen der Stadt, wonach die Regierungsgebäude die Position des Kopfes übernehmen, abgesetzt vom Rumpf des Stadtkörpers, deckten sich mit den bereits vorliegenden Plänen Mayers. Die Bauten des Kapitols hatte dieser am Nordende angeordnet, losgelöst von der Figur des Stadtgrundrisses. Diese Isolierung erinnert an die von Le Corbusier bewunderte Akropolis, die hoch über Athen thront. Ihm ging es primär darum, das Verhältnis von Mensch, Natur und Kosmos zu thematisieren. So beziehen sich mehrere Monumente der Anlage gestalterisch auf die Sonne und deren täglichen Lauf. Eine Einbettung des Kapitols in die Stadt wäre diesem übergeordneten Anliegen und Le Corbusiers Obsession eines freien Horizontes hinderlich gewesen.

Für Le Corbusier entsprach der Kapitolskomplex einem lieu sacré. Zur Steigerung der symbolischen Bedeutung setzte er ihn in Beziehung zur Landschaft. Schon in seinen ersten Skizzen waren die nahen Ausläufer des Himalajas als grandioser Hintergrund für das Kapitol präsent. Auffällig dabei ist die Parallele zu Ronchamp, wo ihn die Umgebung ebenfalls entschieden inspirierte. Le Corbusier sprach dabei von der «Akustik» der Landschaft, die bestimmt werde von ihren vier Horizonten, denen die architektonische Konzeption entsprechen müsse.

Die Anwendung monumentaler Dimensionen in Verbindung mit den Zielen eines modernen Indien war für Le Corbusier als Ausgangslage gegeben. So verwendete er die Pariser Monumentalachse vom Louvre über die Place de la Concorde bis zum Etoile als wichtigen Massstabsvergleich. Ebenso bedeutsam als Referenz war für ihn Lutyens' Gestaltung von Neu-Delhi, die 30 Jahre vorher entstanden war. Le Corbusier war sich der sehr grosszügigen räumlichen Auslegung des Kapitols durchaus bewusst. Deshalb setzte er die Wasserbecken vor den Hauptfassaden des Parlamentsgebäudes und des Justizpalastes primär ein, um die Distanzen optisch zu verkleinern.

Bis heute ist der Gouverneurspalast mit der ihm vorgelagerten Gartenanlage nicht realisiert worden. Damit fehlt der geplanten dreiteiligen Komposition Parlamentsgebäude - Justizpalast - Gouverneurspalast das wichtige, als Krönung gedachte, nördliche Element. Die heutige Kritik beurteilt also ein unvollendetes Werk. Le Corbusiers Skizzen der Gartenanlage mit ihren Vertiefungen und der räumlichen Kante, die sie zur Seite des Justizpalastes bildet, lassen deren Bedeutung für das räumliche Erlebnis auf dem zentralen Platz unschwer erahnen. Anlässlich der Konferenz wurde eine originalgrosse Fassadenattrappe des Gouverneurspalastes angefertigt. So war gut zu erkennen, welche Rolle diesem innerhalb des Ensembles zugedacht war. Mehrfach wurde an der Konferenz gefordert, den Gouverneurspalast nachträglich zu erstellen; wenn nötig mit neuer Nutzung, etwa als «Museum of Knowledge». Schon Le Corbusier hatte dies vorgeschlagen.

Slums - die andere Seite Chandigarhs

Obwohl international häufig als westlichen Fortschrittsidealen verpflichtet kritisiert, geniesst Chandigarh bei vielen Indern den Ruf, die schönste Stadt des Landes zu sein. Die Bewohner nennen sie stolz «City Beautiful». Tatsächlich ist ihre Sauberkeit und Ordnung in Indien einmalig; nirgendwo gibt es so viele gepflegte Grünanlagen. Vorbildlich sind auch Wasser- und Stromversorgung sowie das Abwassersystem. Den meisten Besuchern entgeht jedoch die grösste Bedrohung Chandigarhs, denn diese liegt ausserhalb der geplanten Stadt. Es sind die illegal errichteten Slums. Chandigarh wurde für 500 000 Einwohner geplant. Das Wachstum übertraf jedoch alle Erwartungen. Die Gründe dafür liegen einerseits in der 1966 erfolgten Teilung des Punjab (in die Staaten Punjab und Haryana), die zu Einwohnerverschiebungen führte, anderseits in der Sogwirkung auf die Landbevölkerung, die hofft, hier Arbeit zu finden. Bereits Anfang der achtziger Jahre wurde die prognostizierte Einwohnerzahl erreicht. Heute dürfte diese bei 800 000 liegen.

Die Gründe für die Slumbildung sind vielfältig. Anfänglich wurden Grundstücke zu fixen Preisen angeboten, später ging die Administration wegen Finanzierungsproblemen jedoch dazu über, sie in Auktionen zu verkaufen, was zur Bodenspekulation führte. Vielen Zuwanderern wurde ein Landerwerb somit verunmöglicht. Sie sahen sich zum Bau von nicht bewilligten Unterkünften gezwungen. Diese ungeplanten und illegalen Entwicklungen sind zwar ein typisches Phänomen in vielen Grossstädten der Dritten Welt. Als zusätzliche Erschwernis für Chandigarh erwies sich jedoch das rigide Festhalten der Ämter an den Bauvorschriften, die vom Planungsteam um Le Corbusier erlassen worden waren. Im Bestreben, dessen Erbe zu bewahren, beschäftigten sich die Baubehörden mit dem Durchsetzen ästhetischer Richtlinien, statt sich um die Wohnungsprobleme der minderprivilegierten Bevölkerung zu kümmern. Entgegen Le Corbusiers Periphery Control Act, einer Verordnung, die jede Bautätigkeit im Radius von 10 Meilen ausserhalb der geplanten Sektoren verbietet, entstanden in dieser Freihaltezone Satellitenstädte wie zum Beispiel Panchkula im Nordosten. Im Süden wächst in Anknüpfung an das bestehende Rastersystem eine dritte Erweiterung.

Die Gründe für diese bedauerlichen Entwicklungen liegen in fortgesetzten politischen Spannungen der Gliedstaaten, die eine koordinierte Planung verunmöglichen. Eigentlich hätte dies vermieden werden können, da von den ursprünglichen 47 Sektoren - effektiv sind es 46, da die Nummer 13 fehlt - auch heute nur wenige die geplante Einwohnerzahl erreichen. An der Konferenz wurde eine Nachverdichtung denn auch dringend empfohlen. Mit der bisherigen administrativen, auch politisch bedingten Schwerfälligkeit ist dem rapiden Urbanisierungsprozess jedenfalls nicht beizukommen. Um den massiven demographischen Druck bewältigen zu können, müssen nun dynamischere Planungsmethoden angewendet werden; darin integrierte Korrekturmechanismen würden es zudem erlauben, auf sich ändernde Einflüsse zu reagieren. Gefordert sind jetzt klare Strategien und der politische Wille, diese auch durchzusetzen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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