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Vom Zentrum an die Peripherie
Neue Zürcher Zeitung

Mentalitätswandel im Urbanismus

5. März 1999 - Robert Kaltenbrunner
Was die einen für eine neue Wildnis halten, birgt für die anderen die Zukunft des Städtischen: Mehr und mehr sind statt der traditionellen kompakten und durchmischten Stadt disperse und entmischte Siedlungsstrukturen entstanden, die sich einer sinnlich nachvollziehbaren Gliederung weitgehend entziehen. Zunehmend wird von einer «Amerikanisierung» unserer Städte gesprochen. Was da in Randlagen und Zwischenzonen heute gedeiht, ist weder städtisch noch ländlich, noch vorstädtisch; es besitzt all diese Elemente gleichzeitig und passt somit nicht in die konventionelle (tradierte) Terminologie der Stadtplaner wie der Historiker.

«Peripherie ist überall», an vielen topographischen Orten, immer häufiger aber auch in der Diskussion. Das Bauhaus in Dessau hat dazu unlängst eine Tagung mit namhaften Vertretern unterschiedlicher Disziplinen veranstaltet, dessen Ergebnisse nun in einem eigenwilligen Buch verewigt wurden. Herausgeber Walter Prigge will damit ein Denken befördern, das «die Gegensätze von Wachstum und Schrumpfung, Ökologie und Ästhetik an ihrer räumlichen Achse Stadtrand dezentriert und zu einer neuen Stadtentwicklungspolitik aufbricht». Herausgekommen ist zumindest ein buntes Kaleidoskop anregender Essays. Die Autoren werben dafür, den Städteraum als unterschiedenes Ganzes zu begreifen, in dem es nicht überall alles geben muss.

Das setzt jedoch einen Mentalitätswandel voraus. Es heisst, sich der Einsicht vom Wert des «Da-Zwischen» zu beugen - und die Peripherie als das anzuerkennen, was sie de facto ist. Man wird also lernen müssen, mit den Gegebenheiten unserer postindustriellen Stadtrand-Verhältnisse umzugehen - diesen Überlagerungen von Raumschichten unterschiedlichster Prägung mit ihren so charakteristischen Einsprengseln nahezu jedweder Nutzungsart und baulichen Form. Und es braucht ein unvoreingenommenes Auge, um die sozialräumliche Komplexität der scheinbar banalen Stadtrandareale und Brachflächen zu entziffern. Dass sich an der Peripherie, und nicht im Zentrum, die entscheidenden Fragen von Stadtkultur und Planung entzünden, dürfte nach der Lektüre keine Frage mehr sein.

[Peripherie ist überall. Hrsg. Walter Prigge. Campus-Verlag, Frankfurt a. M. 1998. 384 S., Fr. 73.-.]

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