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Un cadavre exquis
Neue Zürcher Zeitung

Euralille liegt immer noch in der Peripherie

1858 bewilligte Napoleon III. die Schleifung der Befestigungsanlage von Lille. Auf dem Gelände wurde ein Boulevard mit öffentlichen Bauten angelegt. 1988 ist der östliche Bereich des ehemaligen Befestigungsgürtels für den Bau von Euralille zum Wettbewerb ausgeschrieben worden. 1994 wurde diese zweite Erweiterung abgeschlossen. Heute herrschen geteilte Meinungen darüber, was Rem Koolhaas in Euralille erreichte.

9. April 1999 - Laurent Stalder
Das Gelände östlich der Stadt, durch den alten Bahnhof Lille-Flandres vom Zentrum getrennt, war ein typisches Stück Peripherie. Dort wollte der Bürgermeister von Lille, Pierre Mauroy, ein neues europäisches Handelszentrum errichten. Schliesslich sollte seine Stadt dank dem neuen TGV-Eurostar bald in einer Stunde von Paris und London, einer halben Stunde von Brüssel und anderthalb Stunden von Frankfurt und Rotterdam aus zu erreichen sein. Rund um den neuen TGV-Bahnhof sollten 80 000 Quadratmeter Land mit einem Kongresszentrum, einer Ausstellungshalle, einer Konzerthalle, einem Hotel, Läden, Büroräumen und Wohnungen überbaut werden. Vor vier Jahren wurde die erste Etappe von Euralille fertiggestellt. Das Gelände östlich der Altstadt ist aber immer noch Peripherie.

Der gordische Knoten

Ein gordischer Knoten aus Infrastrukturen sei zu lösen gewesen, schreibt der Planer von Euralille, Rem Koolhaas, zur vorgefundenen Situation im Osten der Stadt. Die geplante TGV-Linie, die vorhandene Umfahrungsstrasse von Lille, die Metro und die Hauptstrasse nach Norden sollten hier zusammentreffen. Um den verstrickten Knäuel zu lösen, wurden die unterschiedlichen Verkehrswege neben- und übereinander angelegt: unter Tag die Metro, quer darüber die Umfahrungsstrasse, die zugleich die Grenze des Gebietes bildet, und daneben die TGV-Linie. Über den Bahnhof, das Dach zerschneidend, führt die Hauptstrasse. Dadurch wird das Gelände in verschiedene Bereiche aufgeteilt, die mit unterschiedlichen Nutzungen besetzt wurden. Mehr als die Hälfte des Bauprogramms – mit dem Bahnhof, dem zwei Hektaren grossen Einkaufszentrum, den Büroräumen und dem Wohnblock – füllt das dreieckige Grundstück zwischen neuem und altem Bahnhof und der Hauptstrasse aus. Ein Erholungsgebiet besetzt die Fläche westlich davon. Im Süden, durch das Geleisefeld des alten Bahnhofs getrennt, liegt das Kongresszentrum.

Der Bebauungsplan ist graphisch, einfach: Linien und Flächen oder Verkehrsadern und Bauland. In der Überbauung dominiert das Körperhafte der stehenden oder liegenden, langen oder breiten Bauten. Einer wechselseitigen räumlichen Beziehung der Gebäude steht die Überlagerung von einzelnen Volumina entgegen. Sie erfüllen auf der zugeteilten Fläche das Raumprogramm und scheinen, auf sich selbst bezogen, von der Umgebung weitgehend unabhängig zu sein. Auch die neuen Verkehrsadern sind eigenständig. Geradlinig gewährleisten sie die schnellste Verbindung. Verkehr und Bebauung bilden gleichwertige Elemente, die immer wieder anderen Gesetzen zu folgen scheinen. Weder vermögen die Strassen die Abmessungen der Bauten festzulegen noch bestimmen diese die Ausrichtung der Verkehrswege. Sie überlagern sich oder überschneiden sich einfach. Vor dem Bahnhof ist ein dreieckiger Platz freigeblieben, der unter der Brücke in einen weiten Park nach Westen ausläuft. Er füllt mit seinem Grün die Freiräume zwischen der Altstadt und der Umfahrungsstrasse auf. Platz und Park sind Flächen geblieben, die sich einzig durch ihren Belag unterscheiden.

Dieses Erscheinungsbild ist uns bekannt. Es ist das Bild der Peripherie, die man in den Vorstädten Europas mit Zug oder Auto durchfährt, das Bild von Verkehrswegen und dazwischen brachliegenden Flächen, auf denen isolierte Bauten stehen, die den ökonomischen Schwankungen folgend wachsen oder verschwinden. Es ist das Bild einer provisorischen Bebauung.

Vertikale und horizontale Hochhäuser

Auf Brückenkonstruktionen über dem TGV- Bahnhof erheben sich zwei Hochhäuser. Sie bilden zugleich den Rücken von Euralille und deuten von weitem durch ihre Anordnung auf das Trassee des Schnellzuges. Der L-förmige Turm von Christian de Portzamparc hebt sich durch seine skulpturale Eleganz hervor. Die geschlossene Form und die Geometrie des Körpers, der sich nach oben ausweitet, betonen das Zeichenhafte des Turmes. (Man wäre geneigt die Form als Markenzeichen für den Crédit Lyonnais oder die Stadt Lille zu lesen.) Das benachbarte World Trade Center hingegen spricht eine sanfte anonyme High-Tech-Sprache. Beide Hochhäuser sind von der Bahnhofsvorfahrt aus leicht erreichbar.

Südlich davon, durch das Geleisefeld des alten Bahnhofes getrennt, von Umfahrungsstrassen umgeben, liegt Congrexpo, den die Lillois beharrlich Grand Palais nennen. Das im Plan eiförmige Gebäude, dessen Form auf das Verkehrsgewirr der Umgebung zu antworten scheint, bezeichnet Rem Koolhaas als horizontales Hochhaus. Statt übereinander werden die einzelnen Funktionen nebeneinander angeordnet. In der Spitze liegt ein Saal für Rockkonzerte, in der Mitte Kongresssäle und in der südlichen Hälfte die grosse Ausstellungshalle. Einzig das grosse Dach und die gemeinsame Parkgarage halten die drei verschiedenen Bereiche zusammen. Im Hauptgeschoss war die Verbindung zwischen dem Rocksaal und dem Kongresszentrum vom Bauträger nicht erwünscht.

Das traditionelle Hochhaus ist ein städtischer Typ. Seine Qualität liegt in der unmittelbaren Erreichbarkeit seiner unterschiedlichen, übereinander gestapelten Funktionen. In einem vertikalen Schacht verbindet der Aufzug die verschiedenen Stockwerke. Die Höhe des Hochhauses entspricht den ökonomischen Bedürfnissen einer maximalen Bodenausnutzung, gleichzeitig aber auch einer leichten Zugänglichkeit für seine verschiedenen Benutzer, die Fussgänger, die Autofahrer oder gar die Benutzer des Helikopters. Diesen Erfordernissen scheinen die beiden Türme über dem Bahnhof gerecht zu werden.

Doch Congrexpo wird nie ein «Hochhaus» sein können, sondern eine riesige Halle in der Peripherie bleiben. Denn dem Gebäude fehlt, ohne die unmittelbare Verbindung der einzelnen Bereiche durch den (horizontalen) Aufzug, das Hauptmerkmal des Hochhauses. Dem Gebäude fehlt der gemeinsame Eingang. Von Brüssel aus kann man zwar in einer halben Stunde in der Tiefgarage sein, doch vom einen Ende der Halle zum anderen braucht man 5 Minuten. Auch ist das Gebäude zu Fuss von Euralille oder vom alten Bahnhof Lille-Flandres her nur über Autobahnbrücken oder durch eine Vorstadtzone mit administrativen Bauten zu erreichen. Mit dem Auto ist der Zugang leichter, denn Congrexpo liegt – wie gesagt – in der Peripherie und wird deshalb am besten über das Parkhaus erschlossen.

Bilder

Der Turm von Christian de Portzamparc wirkt von weitem wie ein Signal. Auch das Einkaufszentrum von Jean Nouvel spielt mit Bildassoziationen. Zur Stadt hin dominieren drei gedrungene Türme den 350 Meter langen Bau aus Stahl und Glas. Zwei weitere sollen zu einem späteren Zeitpunkt dazukommen. Die Gliederung der Fassade ist durch die Farbgestaltung gegeben. Die liegenden und die stehenden Baukörper sind durch rote, gegeneinander versetzte Platten in der Art von Eckquadern seitlich gefasst worden. Die Fassadenfläche der liegenden Baukörper ist zudem mit Holoshine-Film belegt. Dieser verwandelt die Aussenwände in grosse Farbbilder. Auf den Türmen sollen in Zukunft Werbeschriften – «wie in Tokio» – angebracht werden. Diese stadtseitige Fassade ist in ihrer Erscheinung elegant. Die Gebäudekörper sind gut proportioniert, Gliederung und Effekte vielfältig. Doch bleibt sie eine Kulisse. Der hohe Sockel weist kaum Öffnungen auf. Das Körperhafte, die Lichtspiele, die Tiefenwirkung, die unterschiedlichen Eindrücke, die den Reichtum der Architektur auszumachen scheinen, verflachen sich von nahem zu einer glatten Rasterfassade aus Glas und Eisen.

Das grosse Dach, welches das Einkaufszentrum überdeckt, sollte in den Vorstellungen Jean Nouvelles auf seiner Oberseite die Bildhaftigkeit einer Fluglandepiste haben, auf seiner Unterseite hingegen wie die «gesponserten Objekte der Formel 1» Werbungen aufnehmen. Diese Zeichensprache einer Welt der Bewegung hat sich alleine im Innern des Gebäudes niedergeschlagen. Die roten Streifen der Landepiste gliedern nun den Fussboden der Galerien, und die verkleideten Stützen verschwinden in den Regenbogenfarben ihrer Holoshine-Filme. Das Bodenmuster der «Fluglandebahn» ist auf der Deckenunterseite übernommen und durch rote Lampen ergänzt worden. Die Architektur des Einkaufszentrums hat sich auf das Optische, Zeichenhafte reduziert. Die räumlichen Dimensionen und das Haptische des Materials sind dem Visuellen, dem Virtuellen gewichen. Es ist kein Ort zum Verweilen.

Immer noch Peripherie

Das Kongresszentrum sticht im Vergleich zu den übrigen Bauten von Euralille aus Eisen, Glas und Beton durch seinen Materialreichtum hervor. Die drei unterschiedlichen Funktionen des Gebäudes sind auch verschieden behandelt worden. Die Ausstellungshalle kleidet eine elegant gewellte Haut aus transluzentem Polyester und Blech. Das Kongresszentrum zeigt eine Fassade aus Glas und Beton, und der Musiksaal hat ein Bossenmauerwerk aus schwarz bemaltem Beton, der auch für den Sockelbereich der Halle verwendet worden ist. Die Material-, Farb- und Lichtwirkung ist beeindruckend. Unterschiedliche Grade von Transparenz, Flächen- und Tiefenwirkungen – mit billigen und leichten Materialien erzielt – beleben den riesigen Baukörper. Doch gleichzeitig verliert das liegende Hochhaus seine Einheit. Der Bau zerfällt in einzelne unterschiedlich gekleidete Schuppen. Die billigen, aus der Peripherie bekannten alltäglichen Materialien erwecken den Eindruck der Vergänglichkeit. Flickstellen, Erneuerungen, Änderungen würden am Charakter des Baues nichts ändern. Congrexpo könnte schon immer dagewesen sein. Aber wo ist der Grand Palais?

Die Lage von Euralille ist weniger durch die Nachbarschaft zur Altstadt bestimmt als durch die Erreichbarkeit mit TGV und Auto. Es liegt zwar 20 Minuten von der Place Charles de Gaulle in Lille entfernt, aber wichtiger erscheint seine TGV- Distanz zu Paris, London, Brüssel, Frankfurt oder Rotterdam. Dadurch wird Euralille zum virtuellen Zentrum einer Region mit 50 Millionen Einwohnern. Gleichwohl liegt dieses Zentrum von Europa nur an der Peripherie von Lille. Und wie die Peripherie, die man schnell durchfährt, wird hier die Architektur nicht durch das Begehen, durch das räumliche Wahrnehmen erfasst, sondern von aussen her beobachtet. Objekthaft stehen die Bauten wie einzelne isolierte Körper am Rande der Stadt und widersetzen sich einer geschlossenen Erscheinung. Sogar die neue Parkanlage hebt sich als selbständige Fläche von der Bebauung ab. Zeichenhaft unterscheiden sich die Gebäude durch ihre Form, ihre Verkleidung und ihre Werbeschriften. Sie sind einzig für die kurze optische Erfassung entworfen und entsprechend auf die Erscheinung ihrer äusseren Hülle und inneren Verkleidung reduziert. Euralille ist ein Ort der Durchfahrt, denn beim Verweilen würde die Maske, die dem Reisenden zulächelt, zerfallen. In dieser Bildhaftigkeit und in der Vergänglichkeit seiner Architektur findet das Projekt Euralille als Verkehrsknotenpunkt Europas zu seiner letzten Konsequenz. Doch ist es dabei eine Metapher geblieben.

1858 wurde mit der Schleifung der Befestigungsmauer eine dauerhafte Stadterweiterung im Süden von Lille geschaffen. Den neuen Verkehrsbedingungen wurden die Planer mit einem breiten städtischen Boulevard gerecht. Auch wenn sich damals die neuen Bauten durch ihren Massstab und die Quartiere durch ihre Morphologie durchaus vom alten Zentrum unterschieden, so sollten sie doch zur gleichen dauerhaften Stadt gehören. Demgegenüber steht Euralille nicht in der Stadt. Es liegt in der Peripherie und ist auch nach vier Jahren immer noch Peripherie. Es scheint anderen Gesetzen zu gehorchen als die Altstadt und ihre Erweiterung aus dem 19. Jahrhundert. Vielleicht erwartet es das gleiche Schicksal wie einst der alte Bahnhof von Lille, die ehemalige Pariser Gare du Nord, die früh schon einem Neubau weichen musste und hier 1865 Stein für Stein wiedererrichtet wurde. Vielleicht wird Euralille eines Tages ebenfalls Teil für Teil abgebaut und versetzt werden, wenn man feststellen wird, dass das Zentrum Europas irgendwo anders liegt.

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