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Rationalismus und Ortsbezug
Neue Zürcher Zeitung

Ausstellung Alberto Camenzind in Mendrisio

1. April 1999 - Roman Hollenstein
Seit in Mendrisio die Accademia di architettura ihren Betrieb aufgenommen hat, ist der Magnifico Borgo zum Zentrum der Architekturdiskussion im schweizerisch-oberitalienischen Gebiet geworden. Einen wesentlichen Anteil daran haben die von der Akademie veranstalteten Ausstellungen im Museo d'Arte von Mendrisio. Seit vergangenem November besitzt die Akademie zudem eigene Ausstellungsräumlichkeiten in einem von Mario Botta nach mediterranem Vorbild um eine offene Piazza angeordneten Shopping Center, dem Piazzale alla Valle. Bottas Konsumtempel, der sich etwas aneckend an den historischen Stadtkörper schmiegt, darf als das wohl gelungenste Beispiel dieses Bautyps in unserem Lande bezeichnet werden. Auf der obersten Etage, am Ende einer Aussichtspromenade, befindet sich der Archivio del Moderno: ein Forschungs-, Dokumentations- und Ausstellungsinstitut. Seinen Einstand gab dieses Moderne-Archiv im vergangenen November mit einer Bestandesschau. Nun zeigt es die 1996 von der ETH Zürich zusammengestellte Werkretrospektive des Luganeser Architekten Alberto Camenzind, der zusammen mit Rino Tami zu den Vätern der neuen Tessiner Architektur zählt. Schien die Zürcher Schau, zu der das seit kurzem vorliegende Katalogbuch noch fehlte, die Italianità von Camenzinds Schaffen zu betonen, so erhellt die leicht modifizierte Ausstellung im Tessiner Ambiente nun plötzlich die nordische Seite des Baukünstlers, der in zwei Monaten seinen 85. Geburtstag feiern kann.

Die lateinische Grandezza von Bottas Zentrum kontrastiert denn auch zur nüchternen Sachlichkeit der in der Schau mit sparsamsten Mitteln zur Diskussion gestellten Bauten - allen voran der erstaunlich minimalistischen Generalvertretung von Alfa Romeo in Agno aus dem Jahre 1963. Dieser skulpturale Bau wirkt heute wie ein erratischer Block in Camenzinds zwischen Rationalismus und Ortsbezug oszillierendem Œuvre. Besonders spröd geben sich die ersten Häuser, denen die südländische Heiterkeit von Tamis Bauten fehlt. Wohl über Tami lernte Camenzind die nach dem Krieg von Bruno Zevi als Gegengift gegen den faschistisch unterwanderten Rationalismus propagierte organische Baukunst Frank Lloyd Wrights kennen. Das von Tami zusammen mit Camenzind und Augusto Jaeggli 1961 realisierte Luganeser Radiostudio jedenfalls ist von einem Wrightianismo geprägt, der sich in den sechziger Jahren dann auch in Camenzinds Villen - vom Haus Druey in Novaggio (1961) bis zum Haus Luban in Ascona (1968) - nachweisen lässt, wenngleich diese in Grundriss und Volumenverteilung auch nie die malerische Komplexität der Bauten des grossen Wright-Interpreten Franco Ponti (NZZ vom 4. 8. 98) erreichten. Camenzinds Meisterschaft zeigt sich in der Verschmelzung einer moderaten, von seinem Lehrer Salvisberg vermittelten Moderne mit der Kultur des Ortes. Damit überraschte er schon beim 1958 fertiggestellten, bald deutschschweizerisch karg erscheinenden, bald mit seinen offenen Giebeln an alte Tessinerhäuser erinnernden Gymnasium in Bellinzona. Seither wirkte sie immer wieder als Korrektiv, so auch 1962 im Wohnblock Blaser in Cassarate, wo sich Camenzind mit Aalto auseinandersetzte.

Aus der Enge des Tessins wurde Camenzind als Chefarchitekt der Expo 64 nach Lausanne berufen, der Stadt, in der er während des Krieges als Soldat in langen Gesprächen mit dem vor den Faschisten geflüchteten italienisch-jüdischen Architekten Ernesto Rogers den Razionalismo italiano aus erster Hand kennenlernen durfte. Zu einer Zusammenarbeit mit einem grossen Italiener kam es dann beim Bau des Bureau international du travail (BIT) in Genf, das er zwischen 1965 und 1975 mit Pier Luigi Nervi ausführte.

Seine gesamteidgenössische Karriere führte ihn schliesslich als Professor in die Deutschschweiz. Dort hatte er an der ETH eine ähnliche Vermittlerposition zwischen den drei architektonischen Kulturen des Landes inne wie später Dolf Schnebli, der mit Aldo Rossi nochmals italienischen Geist als wichtigen Katalysator an die Zürcher Eliteschule brachte. Camenzind, der auch während seiner Zeit in Zürich über seinen Partner Bruno Brocchi mit der Tessiner Szene verbunden blieb, realisierte in den frühen siebziger Jahren mit den Lidorama-Bauten in Paradiso ein letztes grosses Heimspiel: Die elegante Anlage am Luganersee darf noch immer als Meilenstein des gehobenen Wohnungsbaus gelten. (Bis 24. April)


Alberto Camenzind. Architekt, Chefarchitekt Expo 64, Lehrer. Hrsg. Werner Oechslin und Flora Ruchat-Roncati. Verlag gta, Zürich 1998. 189 S., Fr. 82.-.

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