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Parvenu-Architektur?
Neue Zürcher Zeitung

Berlin und der Traum von der «Europäischen Stadt»

Noch vor dem zehnten Jahrestag des Mauerfalls will sich die deutsche Regierung im Laufe des kommenden Jahres in Berlin einquartieren. Auf den ungezählten Baustellen der Stadt fiebert man dem Ereignis entgegen. Während im Zentrum architektonisches Mittelmass vorherrscht, entstehen in Kreuzberg und am Stadtrand einige vielversprechende Bauten.

4. Dezember 1998 - Roman Hollenstein
Eine riesige Shopping Mall mit Vergnügungszentrum nicht auf der grünen Wiese, sondern im Herzen einer europäischen Grossstadt, das sieht man selten. Zu finden ist diese Rarität in Berlin, genauer am Potsdamer Platz. Seit dieser – obwohl noch lange nicht vollendet – vor zwei Monaten offiziell eröffnet wurde, drängen sich hier die Schaulustigen. Kasino, Imax-Kino und Geschäfte rund um den neugeschaffenen Marlene-Dietrich- Platz vermitteln schon jetzt einen Eindruck davon, wie die Stadt des postindustriellen Zeitalters aussehen könnte. Der neue Stadtteil beschwört das Science-fiction-Bild einer klinischen, von mächtigen Konzernen verwalteten City. Die hochverdichteten, zum lockeren Berliner Stadtgefüge kontrastierenden Baukomplexe des fast fertiggestellten Debis-Areals, des seiner Vollendung entgegensehenden Sony-Blocks und des geplanten ABB-Häuserbandes geben sich im Niemandsland zwischen Kulturforum, Tiergarten und Leipziger Platz fast so hermetisch wie gewisse privat kontrollierte Malls in Los Angeles.


«Hier ist Berlin»

Dieser Eindruck wird nicht zuletzt durch die Künstlichkeit der Neuanlage geweckt. Fast scheint es, als werde hier die Berliner Formel von der «Rekonstruktion der europäischen Stadt» mit den Mitteln von Disneyworld umgesetzt. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, werben nun die Macher mit der Beschwörungsformel «Hier ist Berlin». Doch dem pulsierenden Berlin begegnet man nicht auf dieser «grössten Baustelle Europas», sondern wohl eher rund um den Kurfürstendamm. Das Leben am Potsdamer Platz wird vor allem durch flanierende Touristen geprägt, die das Werden einer Stadt am Ende unseres Jahrhunderts mitverfolgen wollen. Wohl nie und nirgends war Architektur so populär wie gegenwärtig in Berlin – und dies, obwohl das meiste, was sich aus den Bauhüllen schält, von ernüchterndem Mittelmass zeugt. Gewiss, Renzo Pianos fein komponiertes Debis-Hochhaus am Landwehrkanal darf sich sehen lassen. Doch seine anderen Bauten sind mit ihren Terracotta-Fassaden zu penetrant, um als diskrete Strassenfassungen zu dienen, und gleichzeitig zu banal, um als baukünstlerische Statements gelten zu können. Moneos Hotel mit dem altrosa Steinkleid dagegen kommt kaum über reine Kommerzarchitektur hinaus, und Rogers Zwillingshäuser vermögen ihre Extravaganz nicht mit dem Berliner Baukörper- und Traufhöhenkult zusammenzubringen.

Am Potsdamer Platz selbst, der wohl nie mehr als ein Hochhauswinkel an einer zugigen Strassenkreuzung sein wird, wagt Kollhoffs weinroter Klinkerturm einen Flirt mit dem Expressionismus, während Jahns gläserner Sony-Tower von amerikanischen Glitterwelten kündet. Am besten erfassen lassen sich die pharaonischen Dimensionen des Gesamtprojekts, zu dem vor fünf Jahren der erste Spatenstich getan wurde, vom Dach der Infobox, einem Ausstellungsprovisorium von Schneider & Schumacher, das anders als viele der auf Dauer errichteten Bauten das Lob der Kritiker gefunden hat. Von hier oben erscheint die im Schatten der tanzenden Krane entstehende Architektur wie das permanent sich verändernde Bühnenbild zum Stück «Wir bauen eine Stadt».


Banalitäten von Stararchitekten

Nach Norden geht der Blick zum Brandenburger Tor und zum Regierungsviertel. Ein Gewirr von Baumaschinen verweist auch dort auf die Schnelligkeit des Wandels. Während sich Fosters Kuppel über dem schwerfälligen Reichstagsgebäude wie ein zu klein geratenes Spitzenhäubchen ausnimmt, bemühen sich die Regierungsbauten von Axel Schultes im Spreebogen, allen voran das auf Louis Kahn verweisende Kanzleramt, um Monumentalität. Noch darf man gespannt sein, ob diese hohle Geste durch den neuen Lehrter Bahnhof, von dem jenseits der Spree erst ein riesiger Aushub zu sehen ist, entlarvt wird: Hier ist – wie fast allenthalben in Berlin – weniger eine Stadt der Zukunft als vielmehr des urbanistischen und architektonischen Konservativismus im Entstehen. Ähnlich rückwärtsorientiert wirkt Josef Paul Kleihues' «kritische Rekonstruktion» des Pariser Platzes mit den beiden das Brandenburger Tor rahmenden Häusern Sommer und Liebermann, auch wenn nicht Nostalgie, sondern eine rationalistische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes hinter diesem Vorhaben steht. Gleiches kann man vom Bankpalast des Büros von Gerkan, Marg & Partner kaum und vom neuen Hotel Adlon schon gar nicht sagen. Auch die Projekte von Gehry und Portzamparc, die bald mit introvertierter Exzentrik, bald mit irritierenden Grossformen kokettieren, werden wohl keine Meisterwerke werden. So kann man nur hoffen, dass das von Günter Behnisch geplante gläserne Akademiegebäude dem unter einem zu grossen Erwartungsdruck leidenden Platz einen Akzent verleihen und so ein Gegengewicht zur hier vorherrschenden Mimikry-Architektur schaffen wird.

Mit Sicherheit aber wird Behnischs Akademieneubau jener steinernen Schwere entgegenwirken, welche die «Linden» heute erstarren lässt. Dieser stumpfen Versteinerung kommt der unlängst vom neuen Staatsminister für Kultur, Michael Naumann, geäusserte Wunsch entgegen, am anderen Ende des Prachtboulevards das Schloss wenn möglich wiedererstehen zu lassen. Damit würde das Berliner Bauen endgültig zu jener Geschichtsfälschung verkommen, gegen die sich ein anderer Palast, Mäcklers Lindencorso, zur Wehr setzt: Hier am Eingang zur Friedrichstrasse wurde der Versuch gewagt, eine klassische Steinfassade mit der Sprache der Moderne zu versöhnen. In der Friedrichstrasse selbst zeigt sich dann aber, wie wenig edel polierter Stein im Grunde zum Gesicht der Berliner Strassen passt. Sogar die sorgsam proportionierten, selbsttragenden Steinmauern von Kollhoffs Doppelbau können ihre Noblesse nur im Dialog mit den lokal verankerten Putzfassaden entfalten.

Die hohen, oft allzu sklavisch angewandten Auflagen zur «Fortschreibung der europäischen Stadt» haben hier die Entstehung eines städtischen Ambientes kaum gefördert. Selbst Nouvels schwarzer Glasschrein der Galeries Lafayette, der das Erbe Mendelsohns neu zu interpretieren sucht, schafft es nicht, gegen die steinglänzende Tristesse der Friedrichstrasse anzukommen. Wer von Rossis buntem Schützenstrasse-Quartier mit seiner papierenen Kopie der Hoffassade des Palazzo Farnese die Rettung erhoffte, wird ebenfalls enttäuscht. Weit besser auf die Realität ging da Philip Johnson mit seiner Verballhornung der neuen Berliner Parvenu-Architektur ein. Der absichtlich banal ausgeformte Bau thematisiert aber auch, wie sich die Architekten am Pariser Platz und an der Friedrichstrasse kleinlaut von ihren Visionen verabschiedeten.


Hoffnungsschimmer am Rand

An der Kantstrasse in Kreuzberg, jenseits des einstigen Checkpoints Charlie, trifft man dann doch noch auf einen Neubau, der mehr ist als ein Hoffnungsschimmer: Es handelt sich dabei um die Restaurierung und Erweiterung der GSW- Hauptniederlassung durch Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton. Die fast vollendete Collage, bei der ein graues, wohlproportioniertes Hochhaus aus dem Jahre 1961 von einer gleich hohen Scheibe und einem ovalen Schwebekörper gefasst wird, überzeugt durch Farbenspiele, Form und ökologisches Engagement. Man möchte sie zusammen mit dem nur wenige hundert Meter entfernten Blitz des Jüdischen Museums von Libeskind und Heckers Galinski-Schule zu den raren neuen Meisterwerken der Stadt zählen.

Sonst aber scheint sich in Berlin die Regel zu bestätigen, dass die Qualität der Bauten mit ihrer Distanz vom Zentrum zunimmt. So stehen in der cityfernen Wissenschaftsstadt Adlershof in Treptow gleich mehrere interessante Neubauten in enger Auseinandersetzung mit vorbildlichen Restaurierungsprojekten. Vom neuen Selbstbewusstsein des Viertels zeugen die – architektonisch allerdings belanglosen – «Treptowers». Sie künden von der Aufbruchstimmung im Osten, aber auch davon, dass Berlin schon immer viele Zentren mit eigenen Entwicklungsmerkmalen hatte. Eines davon ist und bleibt Charlottenburg. Dort wurde neben dem Kant-Dreieck von Kleihues an der Fasanenstrasse gerade erst Nicholas Grimshaws Ludwig-Erhard-Haus fertiggestellt, ein von den Berlinern liebevoll «Gürteltier» genanntes Gebäude, das leider allzu viele Konzessionen an die Blockhaftigkeit machen musste. Eingreifende Veränderungen finden zurzeit aber auch rund um den Kurfürstendamm statt, wo Helmut Jahn mit einem gigantischen Block das legendäre Café Kranzler bedrängt. Schlimmer noch ergeht es Werner Düttmanns erst knapp 30 Jahre altem «Ku'damm-Eck», einem wichtigen Zeitzeugen, der dem Abbruch geopfert wird. Die jüngst nach Westen übergeschwappte Baueuphorie soll aber noch höhere Wellen schlagen: in der dereinst von Hochhäusern dominierten City West rund um Eiermanns Gedächtniskirche.

Berlin muss gegenwärtig viele Eingriffe in den Stadtkörper verkraften. Doch war die Stadt seit je eine geduldige Patientin. Schöner ist sie durch all die Implantate zwar nicht geworden, aber mit ihrem eigenwilligen Charakter kann sie durchaus neben der Noblesse von Paris und der Bellezza Roms bestehen. Nur sollte sie jetzt nicht den Fehler machen, so sein zu wollen wie ihre mit einer reicheren architektonischen Mitgift ausgestatteten Schwestern. Berlin mit seinen Brachen und Autobahnen entsprach nie wirklich der klassischen europäischen Stadt. Die vergleichsweise junge Metropole war und ist in ihrem an einen grob zusammengenähten Flickenteppich erinnernden städtebaulichen Layout und in ihren architektonischen Unebenheiten oft den US-Städten näher. Zum Glück ist das urbanistische Kapital der Stadt so gross, dass selbst das fragwürdige Streben nach der «europäischen Stadt» ihre Eigenart nicht wirklich gefährden kann.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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