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Luft von anderen Planeten
Neue Zürcher Zeitung

Kosmische Visionen der expressionistischen Architekten

Der Gedanke einer mystischen Allbeseelung und einer kosmischen Harmonie prägte die Vorstellungswelt jener deutschen Architekten, die sich im Jahre 1919 zur «Gläsernen Kette» zusammengeschlossen hatten. In den Zeichnungen von Bruno Taut und Wenzel Hablik entgrenzt sich die irdische Welt ins Universum.

24. Dezember 1998 - Hubertus Adam
«Zu bauen gibt es heute fast nichts», konstatierte Bruno Taut, als er sich im November des Jahres 1919 an eine Reihe von Kollegen wandte, um sie zu einer neuen Form geistigen Austauschs zu bewegen. Die «imaginären Architekten» sollten vermittels Rundschreiben miteinander in Kontakt treten und, wenn die wirtschaftliche Krisensituation schon keine Praxis ermöglichte, zumindest theoretisch das Feld des Bauens erörtern. Taut gelang es als Spiritus rector, zwölf Mitstreiter um sich zu scharen – der Briefwechsel der «Gläsernen Kette», wie der Dramatiker Alfred Brust den eingeschworenen Zirkel nannte, währte bis Ende Dezember 1920. Befleissigten sich die Teilnehmer auch eines logenhaft-sektiererischen Gebarens – Decknamen verschleierten für Aussenstehende die Autorschaft der Zirkulare –, so war man andererseits an Öffentlichkeit interessiert. Tauts kurz nach Formierung der Gruppe publizierter Essay «Architektur neuer Gemeinschaft» wurde mit Zeichnungen seiner Mitstreiter illustriert und enthielt gleichsam ein programmatisches Statement der Gruppe. In parareligiös- nietzscheanischer Diktion avancierte der Architekt darin zum Verkünder eines neuen Glaubens. Den schöpferischen Prozess sah Taut als Vorschein einer neuen spirituellen Welt, in der die bisherigen Gegensätze zur Einheit verschmolzen würden – «vom Stall zum Stern ist eine feste Kette, bei der man Anfang und Ende beliebig vertauschen kann». Der seit der Romantik geläufige Topos des Kristalls wurde zum Symbol der kosmischen Harmonie.


«ALPINE ARCHITEKTUR»

Taut formulierte seine Überzeugungen nicht nur in zahlreichen Briefen an die Mitglieder der «Gläsernen Kette» sowie in mehreren Zeitschriftenbeiträgen, sondern visualisierte sie überdies mit einer Reihe utopischer Szenarien, die schon während der Kriegsjahre entstanden waren, nun aber auch verlegt werden konnten. Gedanklich an einen Nachlasstext von Friedrich Nietzsche anknüpfend, veranschaulichte er mit dem 1919 erschienenen Mappenwerk «Alpine Architektur» die Idee, die Hochgebirgsregion im Herzen Europas durch eine Gemeinschaftsinitiative der europäischen Völker in eine Kunstlandschaft zu verwandeln. Felsgipfel werden abgetragen, Kristallhäuser errichtet; visionäre, farbig leuchtende Glasarchitekturen aus Pfeilern, Bögen und Spitzen überformen das Gebirgsmassiv zwischen Monte Rosa und Matterhorn. Auch wenn Taut das die Arbeitskraft der gesamten Menschheit einbindende Projekt im Sinne einer Kriegsvermeidungsstrategie beschreibt, versteht er die schillernden Bauten in antifunktionalistischem Impetus dezidiert als «unpraktisch und ohne Nutzen», gleichsam als gigantisches Land-art-Projekt.

Einziger Zweck dieser Architektur ist der Schmuck der Erde, dem er eine nachgerade therapeutische Kraft zuschreibt: Flugzeuge und Luftschiffe sollen die Menschen durch die Bergregion fahren und Ausblicke ermöglichen, durch welche die Reisenden von ihren Krankheiten geheilt werden. Dass das Konzept der «Alpinen Architektur» nicht ernsthaft als Handlungsanweisung, sondern eher als Gedankenexperiment zu verstehen war, liegt auf der Hand; Taut weist selbst darauf hin, wenn es in einer Beischrift heisst: «Wir müssen immer das Unerreichbare kennen und wollen, wenn das Erreichbare gelingen soll.»

Noch deutlicher zeigt sich der utopische Charakter in den abschliessenden Blättern. Dort wird der Gedanke der Kristallbauten vom Tellurischen auf den Bereich des Astralen übertragen. Die Tafeln «Domstern» und «Grottenstern» visualisieren architektonisch transformierte Himmelskörper, die irgendwo in der Unendlichkeit des Alls zu schweben scheinen, «Sternennebel» besteht aus einer kaleidoskopartig-psychedelischen Farb-Flächen-Struktur, bei welcher der Verweis auf eine ausserbildliche Wirklichkeit fast völlig suspendiert ist. An die Stelle der Mimetik tritt im letzten Blatt des Mappenwerks die Leere: «Sterne Welten Schlaf Tod Das Grosse Nichts Das Namenlose», liest man in den die Seite beherrschenden Textzeilen. Dieser Prozess kosmischer Entgrenzung findet seine Parallele in Tauts künstlerischem Selbstverständnis. Der Künstler, die «Zentralsonne», schaue als Auge in die Welt; in der schöpferischen Arbeit bilde er die Formen, gebe sich an das Ganze hin, lösche sich selbst aus und werde eins mit dem Weltgeist, heisst es 1919 in «Der Sozialismus des Künstlers».


DER GRIFF NACH DEN STERNEN

Die Begeisterung für astrale Visionen teilte Bruno Taut mit einigen seiner Kollegen aus dem Zirkel der «Gläsernen Kette». Besonders der in Itzehoe lebende Wenzel Hablik hatte sich seit längerem in Zeichnungen, Graphiken und Gemälden mit Weltraumvisionen auseinandergesetzt. Noch während seiner Studienzeit in Wien unternahm der angehende Kunsthandwerker und Maler eigene Flugversuche; seit 1906 entstanden Entwürfe für Flugmaschinen und Zeppeline. Phantastischer jedoch sind die Skizzen für «Luftkolonien», riesige stählerne Gebilde, welche ausgewählte Menschen zum Mars befördern sollten. Mit dem Radierungszyklus «Schaffende Kräfte» (1908/09) antizipierte Hablik genau jene Verbindung von Mystizismus und kosmischen Visionen, Bergwelt und Kristallarchitektur, die einige Jahre später die Arbeiten von Taut bestimmte. Unzweideutig an die Diktion von Nietzsches «Also sprach Zarathustra» anknüpfend, lautet die Beischrift zum ersten Blatt der Folge: «O könnt' ich ewig weilen auf jenen schöpferischen Höhen – wo aus dem Nichts die Sterne sich gebären.»

Derartige utopische Szenarien speisten sich nicht nur aus Habliks Interesse an Aviatik und Astronomie, sondern waren durch literarische Vorlagen inspiriert: Neben den populären Romanen von Jules Verne und Kurd Lasswitz ist hier insbesondere an das umfangreiche Œuvre von Paul Scheerbart zu denken. In der langen Folge seiner Romane, Essays und Novellen hatte sich der 1915 in Berlin verstorbene Schriftsteller unermüdlich phantastischen astralen Szenarien gewidmet; die detaillierte Beschreibung der Baulichkeiten auf fernen Planeten erregte das Interesse der an der «Gläsernen Kette» beteiligten Architekten. So zeichnete Bruno Tauts Bruder Max die «Nuse- Türme» aus Scheerbarts «Lesábendio» – einem 1913 erschienenen Roman, in dem übrigens zum erstenmal der Begriff «Raumfahrt» eingeführt worden sein soll.

Das folgenreiche persönliche Zusammentreffen von Bruno Taut und Paul Scheerbart hatte 1913 auf Vermittlung des Glasmalers Gottfried Heinersdorff stattgefunden; in der Folgezeit entspann sich ein intensiver geistiger Austausch, der durch die wechselseitige Dedikation von Werken bestätigt wurde. Scheerbart widmete dem Architekten die Schrift «Glasarchitektur»; Taut beteiligte den Dichter an seinem Glashaus für die Kölner Werkbundausstellung von 1914. Auszüge aus Scheerbarts skurrilen Texten fanden an verschiedenen Stellen Aufnahme in die von Taut herausgegebenen Publikationen, unter anderem in seine zwischen 1920 und 1922 in zwei Staffeln herausgegebene Zeitschrift «Frühlicht». Tauts Editorial zu Beginn der zweiten Staffel – «Frühlicht» erschien nicht mehr als Supplement zur Zeitschrift «Stadtbaukunst Alter und Neuer Zeit», sondern als eigenständiges Periodikum – lässt noch einmal das kosmisch-expressionistische Pathos der Vorjahre anklingen: «Gläsern und hell leuchtet im Frühlicht eine neue Welt auf. Sie sendet ihre ersten Strahlen aus. Vorglanz der jubelnden Morgenröte. Jahrzehnte, Generationen – und die grosse Sonne der Baukunst, der Kunst überhaupt, beginnt ihren Siegeslauf.» Doch schon bald setzte die Wende zur Sachlichkeit ein – Taut selbst war inzwischen zum Magdeburger Stadtbaurat bestellt worden. Wenige Jahre später – 1924 – ging er als Architekt der GEHAG nach Berlin. Von Auftragsmangel konnte nicht mehr die Rede sein; da sich Wohnungen auf der Erde errichte liessen, erübrigte sich der Griff nach den Sternen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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