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Neuanfang in der Lagune
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische und urbanistische Projekte für Venedig

Besucher Venedigs geniessen die Lagunenstadt in erster Linie als malerische Kulisse. Das von komplexen Umwelteinflüssen bedrohte historische Zentrum soll aber auch den Venezianern weiterhin ein lebenswertes Ambiente bieten. Deshalb müssen in den nächsten Jahren unter anderem neue Wohnungen, Kultureinrichtungen, Schulen und Grünanlagen gebaut werden.

17. Mai 1999 - Roman Hollenstein
Italien ist, zumindest was die Architektur betrifft, seit Jahren schon Provinz. Während hierzulande die Baukunst boomt, steuern unsere südlichen Nachbarn weder mit Gebäuden noch mit Theorien zum internationalen Architekturdiskurs etwas bei. Nun aber träumt mit Venedig ausgerechnet jene Stadt von der Erneuerung, deren prachtvolles Erscheinungsbild - abgesehen von dringend anstehenden Restaurierungen - kaum einer Verbesserung bedarf. Und doch, von wo sonst könnte eine architektonische Wiedergeburt Italiens ausgehen, wenn nicht von der Lagunenstadt: Befindet sich in Venedig doch die angesehenste Architekturschule des Landes; ausserdem wird hier mit der «Biennale di Architettura» seit 1980 - in unregelmässigen Abständen - die weltgrösste Architekturschau durchgeführt.


Venezia (im)possibile

Wenn nun die Perle der Adria mit der Idee eines architektonischen Laboratoriums kokettiert, so geht es ihr nicht nur um die einzigartige Altstadt, sondern um ihre Gesamtstruktur. Bis jetzt nahmen viele das «schöne» Venedig und das «hässliche» Mestre als zwei getrennte Städte zwischen Horror und Verheissung wahr. Dabei bilden Mestre mit seinem lange schon als ökologisches Notstandsgebiet bekannten Hafen Portomarghera und Venedig längst eine Einheit: wirtschaftlich, kulturell, politisch und sozial. Ohne Einbezug des Festlands ist daher eine für die Bewohner sinnvolle Entwicklung des Grossraums Venedig nicht möglich. Hat die chaotische Agglomeration auf der Terra ferma mit industriellen Altlasten zu kämpfen, so ist das täglich von Zehntausenden von Touristen heimgesuchte Zentrum in der Lagune von seiner Ausrichtung auf Tourismus, Bildung, Freizeit und Kultur her im Grunde schon heute eine Stadt des kommenden Jahrhunderts. Daneben kämpft Venedig mit komplexen Problemen: Umweltverschmutzung und Hochwasser bedrohen die Bausubstanz, und interne Migration schwächt die Bevölkerungsstruktur. Mit 65 000 Einwohnern lebt heute nur noch ein Fünftel der Venezianer in der Lagunenstadt.

Als Leonardo Benovolo vor zwei Jahren den neuen Masterplan für Venedig publizierte, löste er in Italien eine heftige Debatte aus. Besonders ärgerlich erschien den Kritikern, dass die längst Realität gewordene Agglomeration nun auch planerisch als Einheit gedacht wurde - und zwar als bipolare Stadt mit einem Zentrum auf dem Wasser und einem auf dem Festland, deren Lebensnerv die seit 1846 bestehende Brückenverbindung ist. Auf Grund dieses Planes, dessen erste Ansätze in die fünfziger Jahre zurückreichen und an dem erneut 1976, diesmal zusammen mit der Unesco, gearbeitet wurde, sollen nun die schlimmsten Übel angegangen und Zukunftsperspektiven entworfen werden. Dazu wurden jüngst grosse Wettbewerbe durchgeführt. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den beiden Brückenköpfen: So wird in Venedig selbst der alte Frachthafen in einen reinen Passagierterminal umgestaltet und mit einem dekonstruktivistisch anmutenden Abfertigungsgebäude von Ugo Camerino und Michel Macary versehen, während auf dem Festland das bis anhin von der Petrochemie geprägte Ufer von Portomarghera durch einen Technologiepark von Wilhelm Holzbauer und Paolo Piva eine neue Zukunft erhalten und mit riesigen, von Antonio Di Mambro konzipierten Grünanlagen besser auf die Freizeitbedürfnisse des ganzen Stadtkörpers zugeschnitten werden soll.

Damit ist auch schon angedeutet, dass all die ambitionierten Projekte nicht im Herzen der Lagunenstadt verwirklicht werden. Dort restauriert man allenthalben wichtige Denkmäler: vom Dogenpalast und von der Kirche San Moisè bis hin zum ehemaligen Macello, der künftig als Wirtschaftsfakultät dienen soll, dieweil der neugotische Molino Stucky auf der Giudecca mit Hilfe privater Investoren in ein Kongresszentrum mit Hotel, Läden, Wohnungen und Grünanlagen umgebaut wird. Bei der gegenwärtigen Erneuerung der Stadt geht es also nicht mehr wie einst darum, das «unhygienische» Venedig gegen die «saubere» Stadt der Moderne auszuspielen. Vielmehr soll die historische Substanz behutsam saniert, wo nötig durch neue architektonische Statements ergänzt und damit dem alten Stereotyp der «Venezia impossibile» entgegengewirkt werden. An diesem leidet die Stadt, seit die legendären Projekte von Frank Lloyd Wright für die Fondazione Masieri am Canale Grande, von Le Corbusier für das San-Giobbe-Krankenhaus, von Louis Kahn für ein Kongresshaus in den Gardini sowie - Jahre später - von Alvaro Siza für Wohnbauten auf der Giudecca gescheitert waren.


Ausstellung auf San Giorgio

Dass es aber schon damals durchaus auch Ansätze im Sinne einer «Venezia possibile» gab, zeigen der Neubau des Theaters Goldoni, das Bürohaus von Giuseppe Samonà bei San Simeone, vor allem aber das Mehrfamilienhaus an den Zattere von Ignazio Gardella oder Carlo Scarpas Umbau der Fondazione Querini Stampalia. Hier, wo das Zusammentreffen von Erinnerung und Innovation Früchte trug, könnte man mit dem Weiterbauen der Stadt fortfahren. Dies zumindest veranschaulicht die Ausstellung «Venezia - La Nuova Architettura» in der Fondazione Cini auf San Giorgio. Die Präsentation von zwanzig meist aus Wettbewerben hervorgegangenen Projekten für Infrastruktur, Bildung und Kultur, die laut Sindaco Massimo Cacciari zur Ausführung bestimmt sind, bringt Venedig in die internationale Diskussion zurück und entschädigt für die bereits zweimal verschobene 7. Architekturbiennale.

Herzstück der Veranstaltung bildet der kürzlich entschiedene Wettbewerb für den neuen Sitz des Architekturinstituts in den Hallen der ehemaligen Magazzini Frigoriferi am Canale della Giudecca, den Enric Miralles mit einer dekonstruktivistischen Stadtlandschaft für sich entscheiden konnte. Am direktesten auf die Industriebauten eingegangen aber ist Ben van Berkel mit einem abenteuerlich unterhöhlten Monolith, der die Baufigur des alten Komplexes nachempfindet. Die einheimischen Vorschläge hingegen zeigen, wie verzweifelt die jungen Italiener bei internationalen Modeströmungen anzuknüpfen suchen und dass sie noch immer keine architektonischen Denker und schon gar keine Vordenker sind.

Aber auch die anderen in Form von Modellen, Originalzeichnungen, Plänen, Photomontagen und Computersimulationen präsentierten Projekte sind spannend. Sie dürften - wenn sie dereinst auch wirklich gebaut sind - der Stadt ganz neue Impulse geben, ohne dabei ihr Weichbild zu verletzen. Der eleganteste Entwurf ist zweifellos Santiago Calatravas Brücke zwischen Bahnhof und Piazzale Roma, der harmonischste die Erweiterung der Friedhofsinsel von David Chipperfield, der exzentrischste - wie könnte es anders sein - Frank O. Gehrys Terminal für den Flughafen Marco Polo. Mit dem Kontext auseinandergesetzt hat sich vor allem Cino Zucchi auf dem ehemaligen Junghans-Areal auf der Giudecca. Ihm ist hier auch gelungen, was seit Gardella niemand mehr wagte: die Neuformulierung des venezianischen Stadthauses aus dem Geist der Gegenwart heraus. Ihm antwortet der Koreaner Dea-Jin Lee mit dem Projekt eines schlangenförmigen Wohnbaus in den zu restaurierenden Conterie auf Murano. Noch nicht entschieden wurde hingegen über das Arsenal, das Gebiet mit dem grössten Zukunftspotential der Altstadt.

Angesichts der vielen interessanten Vorschläge möchte man hoffen, dass es ihnen nicht so ergeht wie einst jenen von Le Corbusier, Wright und Kahn. Immerhin scheint die Situation heute besser zu sein - auch wenn stetige Terminverschiebungen beim Wiederaufbau der Fenice diesen Eindruck zu widerlegen scheinen. Gewiss: Italiens Mühlen mahlen weiterhin langsam. Gleichwohl bleibt der Trost, dass sich die Apenninenhalbinsel zurückgemeldet hat - wenn nicht mit Bauten, so doch mit einer zukunftweisenden Ausstellung. Und wer weiss, vielleicht hört man demnächst auch aus Rom, wo Piano und Meier an Millenniumsprojekten arbeiten, von einem Neubeginn. (Bis 13. Juni)

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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