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Otto Wagners Denkmal hätte sich einen würdigeren Ort verdient
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Kein anderer Architekt hat Wien so geprägt wie er: Otto Wagner, ein Weltstar, dessen Ideen bis heute nachwirken. Und dessen Denkmal sich einen würdigeren Platz verdient hätte als den gegenwärtigen. Nachbetrachtungen zu den beiden Wagner-Ausstellungen im MAK und im Wien Museum.

4. August 2018 - Christian Kühn
Was macht gute Architektur aus? Für Otto Wagner war die Antwort klar: peinlich genaues Erfassen und vollkommenes Erfüllen des Zwecks, glückliche Wahl des Ausführungsmaterials, einfache und ökonomische Konstruktion, der richtige Standort – und dann die aus diesen Prämissen entstehende Form, die „von selbst in die Feder fließt“.

Das klingt nach purem Funktionalismus, nach einer Architektur, die von der Liebe zum Zweck dominiert wird. Mit dieser Interpretation liegt man bei Wagner allerdings falsch. Die Liebe zum Zweck gibt es, aber neben ihr gibt es auch die Liebe zur Baukunst. „Sine arte, sine amore, non est vita“, lautete ein Prinzip Wagners, gleichwertig neben dem anderen, von Gottfried Semper übernommenen, „Sola artis domina necessitas“: Nur eine Herrin kennt die Kunst, das Bedürfnis. In der Villa in Hütteldorf, die Wagner sich 1886 als Sommerwohnsitz bauen ließ, finden sich beide lateinischen Zitate als Inschriften auf der Fassade, in Marmorplatten eingemeißelt.

Wagner fasziniert bis heute durch die erstaunliche Souveränität, mit der er diese beiden Prinzipien in Einklang zu bringen verstand. In seinem 1896 unter dem Titel „Moderne Architektur“ publizierten theoretischen Hauptwerk – aus dem die eingangs zitierte Definition „guter“ Architektur stammt – legte er das theoretische Fundament einer Praxis, die Poesie und Rationalismus gleichwertig verbindet. In der Vorahnung, dass auch „Moderne Architektur“ zu einem statischen Stilbegriff werden könnte, änderte er in der vierten Auflage 1914 den Titel seines Buchs auf „Die Baukunst unserer Zeit“.

Wagner lässt sich nicht auf einen Vorläufer der „klassischen Moderne“ reduzieren. Er war Vertreter einer eigenständigen Moderne: anti-historistisch, aber geschichtsbewusst, der Funktion verpflichtet, aber souverän im Umgang mit der Form. Als die rebellische Architektengeneration nach dem zweiten Weltkrieg Ende der 1950er-Jahre eine Entwicklung einleitete, die um 1980 als „Postmoderne“ Furore machte, konnte sie in Otto Wagner einen Architekten entdecken, der schon längst dort angekommen war, wo sie die Architektur hinführen wollten.

Als Wagner 1918 im Alter von 76 Jahren verstarb, war er ein Weltstar, dessen Einfluss über seine Publikationen und seine Schüler kaum zu überschätzen ist. Dass zu seinem 100. Todestages eine große Ausstellung zustande kommt, war zu hoffen. Am Ende wurden es zwei, was zu einiger Skepsis Anlass gab. Warum schaffen es die Museen in Wien nicht, ihre Energien zu bündeln, um etwas wirklich Großes zu machen? Um es vorwegzunehmen: Die Skepsis war unbegründet. Einen so faszinierenden Doppelblick auf das Phänomen Wagner, wie er jetzt im Wien Museum und im Museum für Angewandte Kunst (MAK) zu erfahren ist, hätte eine einzelne Ausstellung nie bieten können. Im Wien Museum ordnet das Kuratorenteam Andreas Nierhaus und Eva-Maria Orosz die Ausstellung weitgehend chronologisch und zeigt neben dem Werk auch Exponate zur persönlichen Biografie und zum sozialen Umfeld Wagners. Welchen Stellenwert die Liebe zu seiner Frau Luise für Wagner hatte, wird in Briefen und in Doppelporträts aus unterschiedlichen Lebensabschnitten dokumentiert: Dass der Wagner-Forscher Otto Antonia Graf die Architektur Wagners als „Baukunst des Eros“ beschrieb, hat durchaus Berechtigung.

Ein eigener Raum ist Wagners Stadtregulierungsplan von 1893 und dem Stadtbahnprojekt gewidmet, die Wagner, der bis dahin vor allem ein erfolgreicher Zinshausarchitekt war, zum „modernen“ Architekten machten. Einerseits begann er hier, im Maßstab der Großstadt zu denken. Andererseits entwickelte er eine Ästhetik, die der Technik Leben einhauchte und ihr damit eine Würde verlieh. In der Ausstellung wird das vor allem über Originalzeichnungen vermittelt, deren Exaktheit und Leichtigkeit schon für sich einen Besuch lohnen.

Weitere Stationen sind die Beziehung Wagners zur Secession und der Kampf um ein Stadtmuseum, zuerst am Karlsplatz, dann auf der Schmelz, und schließlich die großen Projekte nach der Jahrhundertwende, die Kirche am Steinhof, die Postsparkasse und nicht zuletzt das Konzept der „unbegrenzten Großstadt“, Wagners Vision für eine Millionenstadt am Beispiel Wiens, verfasst auf Anregung des Dekans der Columbia-Universität in New York. Wagner entwirft für seine Metropole ein Grundmodul für 100.000 Einwohner, eine Rasterstadt mit „Central Park“. Er denkt dabei nicht nur als Künstler: Um die „Macht des Vampyrs Spekulation“ zu brechen, brauche es ein „Expropriationsgesetz“ und einen „Stadtwertzuwachsfonds“.

Nach dem Kauf des hervorragenden Katalogs, der sich zu Recht als neues Standardwerk zum Thema Wagner und seine Zeit bezeichnen darf, wechseln wir zur Ausstellung ins MAK. „Post Otto Wagner. Von der Postsparkasse zur Postmoderne“, kuratiert von Sebastian Hackenschmidt mit Iris Meder und Ákos Moravánszky als wissenschaftlichem Beirat, spannt einen Kosmos aus unterschiedlichen Planeten auf, die lose durch die Person und die Ideen Otto Wagners verknüpft sind. Dabei gibt es – wie es sich für eine Ausstellung gehört, die den Begriff Postmoderne im Titel trägt – wilde Zeitsprünge und Assoziationsketten. Bei der Postsparkasse etwa wird der Fokus auf ein Detail gelegt, das Glasdach über dem Kassensaal, das Wagner ursprünglich als hauchdünne, über Seile abgespannte Glashaut geplant hatte. In der Ausstellung wird das Protokoll der Sitzung präsentiert, in der Wagner wie ein Löwe für diese Lösung kämpft, sich aber schließlich unter Protest pragmatischen Rücksichten beugen muss. Hier springt die Ausstellung 60 Jahre in die Zukunft zu den Olympiadächern von Frey Otto und von dort wieder zurück zu den Festzelten in Wagners Œuvre.

Ähnlich verfahren die Kuratoren mit Arbeiten von Robert Venturi und Denise Scott Brown, deren „Big Apple“-Pavillon für den New Yorker Times Square sich neben einem Modell der Secession und einem Schmuckkästchen von Olbrich findet. So geht es kreuz und quer durch die Architekturgeschichte. Dass man diesem Spiel mit Genuss folgt, liegt nicht zuletzt an der klugen Ausstellungsarchitektur von Claudia Cavallar und Lukas Lederer, die ruhig und mit angemessener Ironie verhindert, dass dieser Kosmos ins Chaotische kippt.

Mit diesen Ausstellungen hat Wien Otto Wagner ein würdiges, wenn auch temporäres Denkmal gesetzt. Sie wären Anlass, auch über das permanente Denkmal nachzudenken, das Josef Hoffmann 1930 für Wagner entworfen hat. Fotos aus der Entstehungszeit zeigen es am Ballhausplatz neben der Hofburg als deutliches Zeichen, dass die Moderne in Österreich angekommen ist. Nach dem Krieg verlagerte man den Standort zur Akademie der bildenden Künste, wo es heute verloren auf einem Grünstreifen steht. Es hätte, als erhobener Zeigefinger einer radikalen Moderne, einen würdigeren Ort verdient.

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