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Was macht eine Stadt lebenswürdig?
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Erstmals leben mehr Menschen in urbanen Strukturen als in ländlichen. Was macht eine Stadt lebenswürdig, wie existieren Menschen neben- und miteinander? Fragen anlässlich der Kür Rio de Janeiros zur Welthauptstadt der Architektur.

27. April 2019 - Ute Woltron
Die Unesco, jene Organisation der Vereinten Nationen, die unter anderem seit 1972 als Verwalterin des „Welterbes der Menschheit“ amtiert, hat erstmals in ihrer Geschichte eine gesamte Stadt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: Für das kommende Jahr wurde die brasilianische Metropole Rio de Janeiro zur „Welthauptstadt der Architektur“ gekürt. Die Wahl erfolgte gemeinsam mit dem Internationalen Architektenverband UIA und wird fortan alle drei Jahre wiederholt. Die UIA wird künftig in der jeweiligen Metropole ihren Weltkongress abhalten und hat sich vorgenommen, neue kommunikative Formate für die Zusammenarbeit zwischen Städteplanern, Politik, Stadtverwaltung und der Stadtbevölkerung zu entwickeln.

Die Unesco ihrerseits hat zwar bereits zuvor Ensembles, also ganze Stadtteile wie etwa die Wiener Innenstadt, zum Weltkulturerbe erklärt, doch nun setzt sie in Zeiten der größten Landflucht der Menschheitsgeschichte ein wichtiges Zeichen. Erstmals leben mehr Menschen in urbanen Strukturen als in ländlichen. Was bedeutet das – nicht nur für die jeweiligen Bewohner, sondern für uns alle? Eine ökologisch sinnvolle Gestaltung der großen Städte ist nicht zuletzt einer der Schlüssel im Kampf gegen den Klimawandel, doch die Fragestellung reicht viel tiefer. Was macht die Lebens- und Liebenswürdigkeit einer Stadt aus? Wie existieren Menschen auf engstem Raum gut neben- und miteinander, und welche Rolle spielt darin die Architektur? Ja, was ist Architektur überhaupt, und was heißt eigentlich „Stadt“?

Was anderswo durch Häuser, Straßen, Plätze definiert wird, ist in Rio ein Spektakel aus Meer und Strand, Berg, Fels und Regenwald und dazwischen hineingestreuten Stadtteilen. Nirgendwo auf der Welt kombinieren sich Architektur und Natur zu reizvolleren Ensembles als in dieser topografisch begnadeten Metropole. Kaum ein Fleckchen, von wo man nicht ein Stück Regenwald sieht, und in Dachgärten und Parks flirren Kolibris und suppentellergroße Schmetterlinge. Hier ist deutlicher lesbar, wie ein glückliches Zusammenspiel zwischen Landschaft, Natur und Architektur funktionieren kann. Dieser Rio-Effekt trifft jeden, der zum ersten Mal hier ist. Er ist eine Art positive Watschen, ein optischer Wachkuss, ein Moment der Erkenntnis des Dreidimensionalen. Er passiert bereits auf dem Weg vom Flughafen in Richtung Copacabana, ganz plötzlich und in einer ganz bestimmten Kurve der Avenida Infante im Stadtteil Flamengo. Dann, wenn auf einen Schlag der Zuckerhut, die Bucht von Botafogo und der Corcovado im Blickfeld erscheinen und jedem Rio-Anfänger erst einmal den Atem rauben. Eine dreidimensionale Postkarte in Lebensgröße erstreckt sich zur Linken, und zur Rechten breitet Christus seine Arme über der Stadt aus.

Wir EU-Europäer kennen lediglich mit London eine echte Megacity mit acht Millionen Einwohnern. Schon die nächstgrößte Stadt Europas, Berlin, ist mit rund 3,5 Millionen Einwohnern im internationalen Vergleich ein mittelgroßes Städtchen. Insbesondere in Asien, Afrika und Südamerika explodieren die Metropolen nachgerade, und Rio de Janeiro ist mit rund 13,3 Millionen Einwohnern nicht einmal halb so groß wie etwa Tokyo, Jakarta oder Delhi.

Unesco-Generalsekretär für Kultur, Ernesto Ottone R, begründet die Entscheidung für Rio als erste Welthauptstadt der Architektur mit der enormen Bandbreite und Qualität ihrer Bauten, sowie den Aktivitäten in den Bereichen Architektur, Kunst und Kultur, die herausragend seien. UIA-Präsident Thomas Vonier ergänzt: „Wir wollen aufzeigen, wie Architekten mithilfe lokaler Stadtregierungen und Communitys eine Schlüsselrolle dabei spielen können, Lösungen aufzuzeigen, die der Gemeinschaft dienen.“

Die Leistungen der brasilianischen Moderne sind bekannt. Ab den 1930er-Jahren prägte eine junge Planerriege, allesamt Kommunisten oder zumindest in der Wolle gefärbte Sozialisten rund um Oscar Niemeyer, Lúcio Costa, Lúcio Moreira, Carlos Leão, Affonso Eduardo Reidy und Ernâni Vasconcellos die luftig-leichte Betonarchitektur der Stadt. Nie sollte vergessen werden, dass häufig soziale Aspekte bei der Planung im Vordergrund standen. Affonso Eduardo Reidy etwa entwickelte sich zum talentierten Wohnbauer. Seine großformatigen Wohnanlagen für die weniger betuchte Bevölkerung Rios schmiegen sich wie Schlangen an die Topografie der steilen Berge. Zwei der herausragenden Beispiele sind die Siedlungen São Vicente und Pedregulho. Letztere liegt heute mittlerweile in einer Gegend der Verwahrlosung, die man besser nicht allein und ohne Landeskundigen aufsucht.

Ebenfalls verwahrlost, gleichwohl nicht so gefährlich ist der ehemals prachtvolle Park rund um Reidys Hauptwerk, das Museum für moderne Kunst. Das Gebäude schwebt gewissermaßen in Betonstützen eingehängt am Ufer jener Bucht neben dem Zuckerhut, die man von Ansichtskarten kennt. Auch anhand dieser Architektur lässt sich eine spezifische Qualität der brasilianischen Moderne festmachen: Außen- und Innenräume, Plätze, Grünflächen – sie alle weisen spielerisch-geometrische Bezüge zueinander auf und bilden so ein Gesamtkunstwerk. Im Park- und Gartenarchitekten Roberto Burle Marx hatten die Betonkonstrukteure einen kongenialen Partner gefunden. Marx war es auch, der der Copacabana die unverwechselbare ornamentale Grafik in schwarz-weißen Schlangenmustern verpasste.

Doch Rio ist bekanntlich auch eine Stadt krasser sozialer Gegensätze und gilt als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung wohnt außerhalb der berühmten Prachtviertel der Südzone sowie in den Favelas, informellen Siedlungen, die sich meist an steile, kaum bebaubare Berghänge schmiegen. Manche von ihnen wurden von den Einwohnern zu höchst lebenswerten Vierteln ausgebaut, andere sind Slums, in denen eine bitterarme Bevölkerung in für uns Europäer unvorstellbaren Verhältnissen lebt.

Als der Architekt Paulo Mendes da Rocha, genannt Paulinho, 2006 als zweiter Brasilianer nach Oscar Niemeyer den Pritzker-Preis erhielt, solidarisierte er sich mit den anonymen Baumeistern der Elendsviertel, die mittlerweile große Teile der ehemals so ehrgeizigen Architektur- und Stadtprojekte umwuchern. Er pries die „Courage unseres Volkes“, das sich seine eigenen Lösungen suche und nicht warte, bis wieder jemand komme und eine Stadt auf dem Reißbrett entwerfe. So stehen denn auch die anlässlich der Olympischen Spiele und der Fußball-WM entwickelten Viertel in der Kritik vieler Cariocas, die sich weniger ein Museum von Santiago Calatrava als vielmehr eine Verbesserung ihrer Infrastruktur gewünscht hätten. Die Idee, mit Architektur der Welt Kraft, Schönheit und Freude zu vermitteln, ist in der ersten Welthauptstadt der Architektur jedoch in vielerlei Hinsicht gelungen, und es wird nicht einfach werden, die Vorlage von Rio de Janeiro zu toppen.

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