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Die Macht der toten Häuser
Der Standard

Endstation oder Baustelle? Thomas Windisch hat verlassene und gottverlassene Orte aufgespürt und diese mit der Kamera festgehalten. Der Verfall der Materie fasziniert aber nicht nur Fotografen, sondern auch Architekten.

21. September 2019 - Wojciech Czaja
A bgeblätterte Seidentapeten, durchgekrachte Parketts und Plafonds, Jahrhunderte in Schutt und Asche. „Mich zieht die Ästhetik dieser Orte magisch an, ich fühle mich darin auf eine gewisse Weise zu Hause“, sagt der steirische Fotograf Thomas Windisch. „Einerseits ist eine Ruine ein verlorener Ort, weil er vom Menschen aufgegeben, seiner Funktionen beraubt und von der Natur zurückerobert wurde. Andererseits aber wird die Ruine durch die Transformation zu etwas ganz Neuem – zu einem Zeitzeugen, zu einem Mahnmal, vielleicht sogar zu einer Vorwegnahme dessen, wie die Welt in hundert Jahren aussehen wird, wenn wir uns weiterhin so deppert anstellen und uns von diesem Planeten eigenhändig ausradieren.“

Windisch ist Autodidakt, fotografiert erst seit ein paar Jahren, seit er sich, wie er im ΔTANDARD-Gespräch erzählt, zu seinem 30. Geburtstag mit einer professionellen Spiegelreflexkamera beschenkt hat. Schon bald entdeckte er seine Leidenschaft für verlassene Villen, tote Krankenhäuser, niedergewirtschaftete Industrieareale. Was als romantischer Spaziergang durch die Zeit begann, entwickelte sich bald zu einer Abenteuersafari, die nicht nur durch Rost und Spinnennetze führt, sondern dem Fotografen mitunter körperliche Beherrschung und logistische Reiseplanung abverlangt.

„Eine Villa oder ein leerstehendes Fabrikgebäude ist relativ leicht zu fotografieren“, sagt der 36-Jährige, der schon mal drei Wochen in Tschernobyl und Prypjat verbrachte. „Schwieriger wird es bei Ruinen, die man sich erst mühsam erkämpfen muss.“ In einer aufgelassenen Mine in England stieß Windisch 2015 auf einen illegalen Schrottplatz, in dem alte Autowracks einfach in die Tiefe gestoßen wurden. Mit Lampen, Kletterausrüstung und aufblasbarem Schlauchboot gewappnet stieg er in die Tiefe hinab und hielt das atemberaubende Foto mitsamt hellblauem Range Rover für die Ewigkeit fest. Gänsehaut. Seite 50 in seiner soeben erschienenen, 200-seitigen Augenreise zu verlassenen Orten.

Nicht nur in der Fotografie, auch in der Architektur sind verlorene Orte ein bewährtes Fundament für lustvolle Spiele an der Schnittstelle von Schöpfung und Zerstörung. Schon in der Antike wurden Ruinen überbaut und Bausteine davon als sogenannte Spolien in anderen Bauwerken wiederverwendet. In der jüngsten Geschichte spielt der spanische Architekt Ricardo Bofill eine wichtige Rolle. 1973 kaufte er in Sant Just Desvern eine alte Zementfabrik aus dem Ersten Weltkrieg und baute diese zu „La Fábrica“ mit Wohn- und Atelierräumen um. In den letzten fünf Jahren erlebt die Revitalisierung von verrotteten Ruinen einen regelrechten Hype – und produziert Räume mit Demut vor der Zeit.

[ Thomas Windisch, „Wer hat hier gelebt? Augenreise zu verlassenen Orten“. Mit Texten von Thomas Macho und Ilija Trojanow. € 45,– / 216 S. Brandstätter, Wien. Präsentation am 30. September in der Buchhandlung Lia Wolf, Sonnenfelsgasse 3, 1010 Wien ]

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