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Ein Architekt und seine Stadt
Neue Zürcher Zeitung

Manche Baukünstler sind eng mit ihrem Wohnort verbunden. So prägt Roger Diener die Stadt Basel seit mehreren Jahrzehnten.

22. November 2019 - Vittorio Magnago Lampugnani
Architekten sind und waren immer umtriebig und ubiquitär. Nicht nur, weil die Grand Tour, die Bildungsreise, stets ein wichtiger Baustein der Ausbildung zum Baumeister war – und immer noch ist. Die Baugelegenheiten kommen nicht ins Büro, man muss zu ihnen reisen. Deswegen sind aber Architekten, gute Architekten, nicht ortlos. Im Gegenteil: Sie sind im Ort, aus dem sie stammen oder wo sie überwiegend leben und arbeiten, tief verwurzelt, und ihr Werk zeugt davon. Einige von ihnen aber sind mehr als das: Sie sind Baumeister, die am Ort und an seiner Entwicklung arbeiten. Mit anderen Worten: Sie sind untrennbar mit ihrer Stadt verbunden.

Um ein wenig zurückzublicken: Andrea Palladio ist der Architekt von Venedig, dem er durch seine strategisch gesetzten Kirchen und Paläste eine strahlende Renaissance-Front zum Wasser hin verliehen hat. Karl Friedrich Schinkel ist der Architekt von Berlin, dem er mit Bauten, die er nach sorgfältigen Versuchen an den neuralgischen Stellen der Stadt errichtete, sein modernes Gesicht gegeben hat. Piero Portaluppi ist der Architekt von Mailand, und seine erstaunlich eklektischen Werke bilden eine eigentümliche, kraftvolle Triangulatur im Stadtgefüge. Auguste Perret ist der Architekt von Paris, wo seine sachlich diskreten Gebäude auf den zweiten Blick mächtig herausragen und der Stadt Ausstrahlung verleihen. Jože Plečnik ist der Architekt von Ljubljana, das er mit seiner Strategie der architektonischen Akupunktur durch Bauten und Freiräume neu und zusammenhängend gestaltet hat.

Mit einem Ort verbundene Architekten

Diese Baumeister haben den architektonischen Charakter ihrer Stadt unwiederbringlich geprägt. Dafür mussten sie nicht notwendigerweise ein Amt in der Bauadministration bekleiden, was lediglich bei Schinkel der Fall war. Sie mussten nicht exzessiv viel bauen, was allenfalls Portaluppi getan hat. Sie mussten nicht die exponiertesten Monumentalbauten errichten, was nur Schinkel mit dem Alten Museum, Perret mit dem Musée des Travaux publics und Plečnik mit der Stadtbibliothek beschieden war. Sie mussten nur – nur? – ihre Gebäude sensibel und selbstbewusst dort platzieren, wo sie besondere Punkte im Stadtgefüge markieren oder das Stadtgefüge selbst neu deuten. Sie mussten in ihren Architekturen die kulturelle Quintessenz der Stadt in ihrer Epoche einfangen.

Einige Architekten entwickeln bewusst eine ausgesprochen individuelle Architektursprache. Diese entsteht aus speziellen, subjektiven Vorlieben, Befindlichkeiten und Emotionen und gehört ihnen allein. Im Expressionismus der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat diese Auffassung einen kurzlebigen Höhepunkt erreicht. Heute erlebt sie ein erstaunliches Revival. Wir verdanken ihr viele selbstverliebte, eitle, aufdringliche Kuriosa, die unwiederbringliche Zerstörung ganzer urbaner Ensembles und einige wenige grossartige Wahrzeichen. Selbst die Wahrzeichen stehen jedoch eigentümlich fremd in der Stadt: Sie arbeiten an ihr nicht weiter.

Den Gesetzmässigkeiten folgen

Andere Architekten entwickeln ebenso absichtsvoll eine universale Architektursprache: Sie entsteht aus der Logik der Aufgabe in ihrer Zeit. Diese Logik und diese Zeit werden unterschiedlich, ja persönlich gedeutet, sind aber grundsätzlich in der Aufgabe enthalten und mithin allgemein. Deshalb ist die Architektursprache, die daraus abgeleitet wird, immer eine Deklination des Klassischen. Deswegen gehört diese Architektursprache nicht ihrem Urheber allein, sondern allen. Sie ist Vermögen der Allgemeinheit.

Die Architekten der Stadt gehören zur zweiten Gattung von Baumeistern. Sie wollen der Stadt nicht ihre Befindlichkeiten aufdrängen, sie wollen keine grundlegend andere Stadt beschwören, sie wollen ihr nicht Wahrzeichen aufnötigen. Sie wollen die bestehende Stadt bewahren und an ihr weiterbauen – schöpferisch, innovativ, überraschend, aber innerhalb ihrer besonderen Gesetzmässigkeit, Physiognomie und Kultur. Daher lassen sie es zu, ja sie möchten es, dass ihre Sprache auch von anderen verwendet wird. Damit schafft man es vielleicht nicht auf die Titelseite einer Illustrierten, aber man kann so eine ganze Stadt bauen.

Kompetenz kommt vor der Handschrift

Roger Dieners Architektur zelebriert die eigene Persönlichkeit ebenso wenig, wie es der Mensch Roger Diener tut. Jemand, der wirklich kompetent und stark ist, braucht seine Kompetenz und seine Stärke nicht zur Schau zu stellen. Wer Architektur beherrscht, vollkommen beherrscht, braucht daraus kein extravagantes individuelles Branding zu machen. Tatsächlich arbeitet Roger Diener an einer Vielzahl von Dimensionen seiner Architektur, nur nicht an ihrer bildhaften Wiedererkennbarkeit.

Das ist heute geradezu eine Anomalie: Nicht ohne eine gewisse peinliche Verbissenheit bemühen sich die meisten exponierten Architekten um eine besondere Handschrift, die möglichst unmissverständlich mit ihren Namen in Verbindung gebracht werden soll. Der architektonischen Rhetorik, dem baulichen Formalismus werden leichtfertig konstruktive, funktionale, soziale und ökonomische Anforderungen geopfert, auch jegliche Rücksicht auf die Bestimmung und den Ort.

Diese Resignation, diese Anbiederung sind Roger Dieners Sache nicht. Für ihn ist Architektur ein Beruf mit Verantwortung, Würde und Stolz. Es geht ihm immer um seine Regeln und Grundlagen – immer um die Funktion, immer um die Konstruktion, immer um die Bestimmung, immer um den Ort. Die Form leitet sich daraus ab, genauer: aus seiner besonderen, persönlichen, schöpferischen Deutung dieser Voraussetzungen. Dass daraus eine ebenso identitätsstiftende wie wiedererkennbare Architektur entsteht, die in ihrer Unaufgeregtheit inzwischen mehr Erfolg hat, sogar mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als die Internationale des Spektakels, gehört zu den erfreulicheren Ironien der Architekturgeschichte.

Der Stadt Basel verpflichtet

Roger Diener ist ein kosmopolitischer, weltweit agierender und anerkannter Architekt. Aber Roger Diener ist auch und vor allem der Architekt von Basel. Man könnte einwenden: Aber er hat hier gar keine Wahrzeichen gebaut. Hat er in der Tat nicht. Doch auch abgesehen davon, dass man über die modernen Wahrzeichen Basels und ihre Angemessenheit unterschiedlich denken kann: Er hat viel mehr getan als das. Er hat mit seinen scheinbar normalen, in Wahrheit hochkomplexen, unergründlichen, zuweilen durchaus auch befremdlichen Bauten nicht nur Orte wie den Barfüsserplatz oder den Picassoplatz subtil verändert und gestärkt; er hat die gesamte Stadt mit leichthändigen punktuellen Eingriffen verwandelt und bereichert.

Die Eingriffe von Roger Diener sind nicht immer geringfügig, auch nicht immer liebenswürdig. Doch auch dann, wenn sie Härte zeigen, bleiben sie unaufdringlich, kultiviert und angemessen. Sie verkörpern so etwas wie einen Extrakt der Basler Architekturtradition und etablieren zugleich eine neue, erfrischende, stellenweise durchaus irritierende Konvention. Und sie bilden Vorbilder für Schüler und Nachahmer. Dass diese dann mehr oder minder glücklich diese Konvention weiterführen, ist dann wiederum ein Beweis der Kraft und der Grosszügigkeit von Roger Dieners Architektur: der Beweis, dass diese Architektur derart in sich ruht, dass sie wie alle grossen Architekturen die Nachahmung provoziert und dass sie jeder verwenden kann, dass sie dann nicht mehr nur ihrem Autor, sondern der Stadt gehört.

Pietro Verri, Wirtschaftswissenschafter, Philosoph, Historiker, Schriftsteller und der vielleicht exponierteste und umstrittenste Vertreter der Mailänder Aufklärung, beschrieb im 18. Jahrhundert, wie das Glück des Menschen bei ihm selbst beginne und sich dann auf das ausweite, was er schaffe. Das Glück des Weisen, folgerte er daraus, erfülle sich im öffentlichen Glück. Genau in diesem Sinn hat Roger Diener seiner Stadt Basel, und nicht nur dieser, das öffentliche Glück seiner Architektur geschenkt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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