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Wo bleibt da der Protest?
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Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit Struktur und Idee von Stadt gemein. Es ist den heimischen Ratsherren offenbar auch längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen. Über die Emanzipation der Geschmacklosigkeit.

14. Dezember 2019 - Reinhard Seiß
Im Jahr 1297 verfügte der Stadtrat von Siena, die Fenster der Gebäude am Hauptplatz, der Piazza del Campo, seien gleichmäßig zu gestalten. Ab 1309 mussten die Bürger neue Häuser zur Straßenseite hin mit Ziegelmauerwerk errichten, auch das ausdrücklich des Stadtbildes wegen. Hässliche Bauten hingegen wurden sogar abgerissen, um „la bellezza della città“, die Schönheit der Stadt, zu fördern, weiß Michael Stolleis, emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. 1370 schließlich bildeten drei Stadtväter einen Ratsausschuss, eine Art spätmittelalterlichen Gestaltungsbeirat, der bei sämtlichen Bauarbeiten im Straßenraum „den Kriterien der Schönheit zur Beachtung verhelfen“ sollte.

Dem Ehrgeiz der Sienesen standen die Florentiner um nichts nach. Ihre Ratsherren ordneten 1322 aus rein ästhetischen Gründen an, dass alle, die Hütten oder Buden in der Stadt besaßen, diese bis zu einer Höhe von 2,36 Metern aufzumauern hatten. An der Via Maggio wiederum durften fortan keine Erker mehr angebracht werden, damit diese Straße weiträumig und schön sei, „ampla et pulchra satis“. Warum gerade toskanische Städte so früh schon auf ihre Schönheit bedacht waren, erklärt Michael Stolleis, im Übrigen Sohn eines Bürgermeisters, indem er die kommunalpolitischen Entscheidungen von damals in einen größeren Kontext stellt: Die an ästhetischen Prinzipien orientierte Urbanistik sei ein integrales Element von Renaissance und Humanismus – und diese hätten bekanntlich in mehreren Gemeinwesen Norditaliens ihren Ausgang genommen und bis weit in die Neuzeit hinein ihre kulturellen Vorreiter gefunden.

Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass unserer Art, Stadt zu bauen beziehungsweise Landschaft zu verbauen, auf eine gehörige geistige, musische und auch ethische Erosion in weiten Teilen unserer Gesellschaft hindeutet. Wie sonst sollte man etwa Wiens monofunktionale Wohnquartiere, in denen sich Menschen auf zehn und mehr Etagen widerspruchslos stapeln lassen, oder „urbane“ Wohntürme in unmittelbarer Autobahnnähe erklären, die nach Jahrzehnten der Ächtung nun wieder als modern gelten? Wie wären die öden „Business Districts“ mit ihren abweisenden „Office Buildings“, die zu allem Überfluss halb leer stehen, oder die alibihaften Restflächen zwischen heutigen Bauten, die wir tatsächlich als Freiräume bezeichnen, anders zu begreifen?

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit der Struktur und Funktionsweise oder auch nur mit der Idee von Stadt gemein, wie sie auch in Österreich über Jahrhunderte kultiviert und weiterentwickelt wurde. Natürlich könnte man dies dem intellektuellen oder moralischen Verfall der handelnden Planungspolitiker, Bauherren, Immobilienspekulanten, Architekten und Planer zuschreiben. Doch können die nur tun, was wir sie tun lassen. Auch hierzulande gab es andere Zeiten, und andernorts gibt es bis heute Städte, in denen Bürger in wahrnehmbarer Zahl für eine andere Entwicklung, als von den Stakeholdern beabsichtigt, auf die Barrikaden gingen und gehen: sei es gegen den Abriss historischer Bauten, sei es gegen neue Straßen und den zerstörerischen Autoverkehr, sei es gegen unmaßstäbliche Spekulationsprojekte, die einen Schaden für ein ganzes Viertel bedeuteten. Wo ist der bürgerschaftliche Protest hier und heute? Der Anteil urbanistisch engagierter Österreicher bewegt sich gegenwärtig im Promillebereich – und entsprechend unbeeindruckt zeigen sich die Entscheidungsträger.

Aber wenn es nur die Passivität der Bevölkerung wäre! Fast alle von uns sind auch Mittäter! Wer sonst ist für die ausgedehnten Einfamilienhaussiedlungen im Fertigteil- oder Baumarkt-Stil samt Doppelgarage verantwortlich? Wer hält denn all die Einkaufs- und Fachmarktzentren mit vorgelagerten Parkplatzwüsten am Leben? Und wer nutzt sommers wie winters jene Freizeitgroßprojekte, die aus zahllosen Ortschaften peinlich überschminkte Gewerbeparks des Massentourismus machen? Andererseits, warum sollte sich unsere Konsumgesellschaft beim Wohnen, Arbeiten, Urlauben oder Verkehren in den Städten und Dörfern anders verhalten als sonst? Wer mit geschmacklosem Obst aus dem Supermarkt, Wegwerfprodukten der Haushalts- und Elektronikdiscounter oder Billigtextilien aus der Dritten Welt sein Glück findet und sich der vollen Tragweite seines Handelns nicht einmal ansatzweise bewusst ist, von dem ist kaum Engagement für ein schöneres Ortsbild oder den Bau einer neuen Straßenbahnlinie zu erwarten. Und schließlich: Wo sind die Medien, die sich konsequent in den Dienst einer nachhaltigeren und, ja, auch schöneren Stadt stellen?

Auch die gab es einmal, denkt man etwa an die 1970er-Jahren und die Rolle der „Salzburger Nachrichten“ für den Schutz der Altstadt und der zentrumsnahen Grünräume Salzburgs – oder an die Bedeutung des ORF für ein politisches Umdenken in Sachen Stadterneuerung in Wien, das bis dahin auf eine Kahlschlagsanierung der weitläufigen Gründerzeitviertel gesetzt hatte. Solch journalistisches Engagement braucht freilich regelmäßig Titelseiten und das Hauptabendprogramm, um Gesellschaft und Politik wirklich zu erreichen und im Idealfall auch etwas zu verändern. Gelegentliche Beiträge im Feuilleton oder der Kultursendung spätnachts bleiben Feigenblätter, solange tagtägliche Werbeeinschaltungen von Bausparkassen, Immobilienwirtschaft, Autokonzernen oder Handelsketten sie an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung drängen – und kraft ihres wirtschaftlichen Gewichts die Themenwahl vieler Redaktionen bestimmen.

Was macht die Schönheit einer Stadt, eines Dorfes eigentlich aus? Die Architektur der einzelnen Gebäude ist es nur bedingt, wie sich in der Toskana ebenso zeigt wie hierzulande. Für sich genommen, sind viele Häuser in italienischen Altstädten ausgesprochen schlicht, mancherorts sogar ärmlich. Aber im Ensemble entfaltet diese Bebauung einen enormen Reiz, was ursächlich mit ihrer Maßstäblichkeit und Einheitlichkeit zu tun hat. Nicht umsonst pochten die Ratsherren in Siena auf eine Gleichmäßigkeit der Häuser rings um den Hauptplatz. Ähnliches führt die – freilich weniger bescheidene – Gründerzeitbebauung Wiens vor Augen. Die zigtausendfach entstandenen Häuser der Boomjahre um 1900 mit ihrem oft seriell vorfabrizierten Fassadendekor gelten Kunsthistorikern vielfach als ideenlose Massenware. Trotzdem stehen Viertel und Straßenzüge mit noch weitgehend erhaltener Substanz aus dieser Zeit für jenes Wien, das heute die meisten Bürger und fast alle Gäste als urban, lebenswert und schön empfinden – zumindest legen das die Immobilienpreise nahe.

Wesentlicher Grund sind auch hier Maßstäblichkeit und Einheitlichkeit der Bebauung: Die Parzellenbreite war stadtweit ebenso klar geregelt wie die jeweils zulässigen Gebäudehöhen – und Wohnhäuser fügten sich in die von der Baubehörde ersonnene, eigentlich ganz simple Stadtstruktur ebenso ein wie Geschäftshäuser, Fabrikbauten oder öffentliche Gebäude. Das soziale Elend, das sich damals hinter den schmucken Fassaden der dicht gestaffelten Zinshäuser verbarg, ändert nichts an der ästhetischen Qualität des durch sie gebildeten Stadtraums.

Auch der Charme jener Siedlungen, die in der Nachkriegszeit in allen österreichischen Städten und vielen Gemeinden entstanden sind, lebt von der Einheitlichkeit der recht einfachen, eingeschoßigen, spitzgiebeligen Häuser mit ihren kleinen, meist obstbaumbestandenen Gärten und oft auch schon einer Garage, allerdings für nur ein Fahrzeug. Freilich nur, solange sie noch nicht durch wuchtige Um- und Ausbauten, blickdichte Gartenzäune, den Einbau von Allerweltstüren und unproportionalen Plastikfenstern oder durch eigenwillige Fassaden- und Farbkonzepte der Individualität ihrer heutigen Besitzer Ausdruck verleihen. Als ob es ein Recht auf schlechten Geschmack und seine öffentliche Zurschaustellung gäbe! Es scheint, als habe unsere Gesellschaft in den frühen 1990er-Jahren, als sich Menschen in anderen Teilen Europas von politischen und materiellen Zwängen befreiten, damit begonnen, die kulturellen – und damit auch baukulturellen – Zwänge, die ihr, gefühlt, auferlegt worden waren, abzuschütteln. Die Emanzipation der Geschmacklosigkeit, sozusagen.

Da hilft es wenig, dass ausgerechnet ein Österreicher Häuslbauern wie Architekten ins Stammbuch schrieb, warum ein Haus allen zu gefallen habe – im Unterschied zu einem Kunstwerk. „Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht“, postulierte Adolf Loos vor mehr als 100 Jahren und: „Das Kunstwerk ist niemandem verantwortlich. Das Haus einem jeden.“ Selbstredend zielen diese Verweise auf die Baugeschichte weder auf eine Reproduktion historischer Fassadenabläufe noch auf jene Art „Rückbesinnung“, wie sie konservative Vertreter des New Urbanism mit ihren romantischen Architekturvorstellungen fordern. Sie sollen einfach nur helfen, wieder etwas zur Besinnung zu kommen. Denn ein ebensolcher Irrweg wie der Zwang zur Gefälligkeit ist der Drang zur Auffälligkeit.

Besagte Einheitlichkeit etwa hat bei ernsthafter Betrachtung nichts mit Einförmigkeit zu tun und ist per se auch kein Hemmnis für Innovation und Vielfalt. Einheitlichkeit erleichtert es im besten Wortsinn, dass einzelne Bauten zusammen eine Einheit ergeben – sprich, ein Ganzes bilden, das mehr ist als die Summe seiner Bestandteile. Das ist es, was man im Grunde unter Städtebau versteht und früher auch als Stadtbaukunst praktiziert hat: nämlich einen kunstvollen Rahmen zu schaffen, in den dann Bilder jedweden Stils und Inhalts passen – aber eben kein fünfmal so großer Wandteppich.

Mehr und mehr wurde Städtebau von einer quartierübergreifenden und kontinuierlichen Aufgabe der öffentlichen Hand zu einem projektbezogenen Wunschkonzert privater Immobilienentwickler und ihrer Architekten, die sich den urbanistischen Rahmen für ihre Bauvorhaben praktischerweise selber abstecken. Wissenschaftlich abgesegnet wird das Ganze noch von Kollegen aus dem universitären Bereich, die in der Öffentlichkeit weniger durch aufrüttelnde Vorträge oder geistreiche Publikationen, denn als Inhaber gut gehender Planungsbüros in Erscheinung treten. In dieser Doppelfunktion reden sie einer „dialogorientierten Stadtentwicklung“, „städtebaulichen Aushandlungsprozessen“ und anderen Metaphern für ein in Wahrheit undemokratisches Monopoly das Wort – ohne jede Scham, dadurch ihre eigene Disziplin, die Planung, ad absurdum zu führen.

So deklamierte der damals in Berlin lehrende Architekt Wilfried Kuehn als Juror des Wettbewerbs für das umstrittene Hochhaus am Wiener Heumarkt, dass es grundsätzlich besser sei, „keine engen städtebaulichen Vorgaben festzulegen, sondern Freiheit für die Architektur zu schaffen, damit aus dieser ein spezifischer Städtebau entwickelt werden kann“. Ein Pferd von hinten aufzuzäumen, würde jeden Stallburschen den Job kosten. In Wiens gegenwärtigem Stadtplanungsdiskurs hingegen geben „Experten“ mit solcherart Nonsens die Richtung vor. „Festgelegte Höhen und Baumassen“, so Kuehn weiter, seien im Übrigen „so probat wie ein Fünfjahresplan, eine Illusion, der zu widersprechen ist“, zumal „ein Masterplan immer abstrakt und wirklichkeitsfremd bleiben wird.“ Nicht ohne Eigennutz, vor allem aber zur Freude ihrer Bauherren diskreditieren diese Stadtvisionäre all jene, die – allein schon zur Wahrung von Anrainer- und Gemeinwohlinteressen oder zwecks Gleichbehandlung aller Grundeigner und Bauwerber – weiter an die Notwendigkeit langfristiger, übergeordneter Konzepte glauben. Sie werden als Dogmatiker hingestellt, die einem längst überholten Idealbild von Stadt, ja der Chimäre einer überhaupt noch planbaren Stadt nachhingen – und damit nicht zuletzt auch hehrer Baukunst im Wege stünden. Interessanterweise sind aus dem gründerzeitlichen Wien, das mit seiner stilistischen Borniertheit Modernisierer wie Otto Wagner und Adolf Loos schier zur Verzweiflung brachte, keine Klagen bekannt, dass die städtebaulichen Vorgaben bedeutende Architektur verhindert hätten.

Freilich hängt die Schönheit von Städten nicht allein am Gebauten, sondern auch an der Gestalt der Räume dazwischen, insbesondere des öffentlichen Raums. Und was finden wir hier, ohne dass es uns im Alltag noch sonderlich auffallen würde? Untrüglichstes Zeichen, dass man sich in einem modernen Teil der Donaumetropole befindet, ist der urbane Felsen. Sie kennen ihn bestimmt. Erstmals gesichtet wurde er in den 1990er-Jahren auf Parkplätzen in suburbanen Gewerbeparks, wo er verhindern sollte, dass Kunden ihre Fahrzeuge auf den Restgrünflächen abstellen. Mittlerweile hat er auch in zentrumsnahe Wohn- und Büroviertel Einzug gehalten, selbst dort, wo gar keine Autos fahren – und in einer Vielzahl, die nahelegt, dass er inzwischen zum beliebten Gestaltungselement der zeitgenössischen Freiraumplanung aufgestiegen ist.

Zu seiner rasanten Ausbreitung beigetragen haben dürfte ein Schlupfloch in der Wiener Bauordnung, denn anders ist es kaum zu erklären, dass in einer Stadt, in der es für alles eine Regelung gibt und eine Genehmigung braucht, Zigtausende kniehohe Gesteinsbrocken verstreut werden können, ohne dass irgendeine Magistratsabteilung wissen würde, wo, in welcher Menge und in welcher Anordnung dies geschieht. Oder haben Sie schon etwas von einem Wiener Felskataster gehört, von einer städtischen Brockenverordnung oder gar einem Umweltgütesiegel für Steine aus heimischen Gebirgsregionen, herangeschafft von emissionsarmen Lkw?

Die einzige sonst mögliche Erklärung für die wachsenden Felsformationen und viele andere urbane Phänomene hieße nämlich: Es ist den heimischen Ratsherren längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen – und welches Bild sich künftige Generationen von unserer Gesellschaft machen. Denn eines ist klar: So wie wir Renaissance, Barock, Biedermeier oder Gründerzeit vornehmlich danach beurteilen, welche Gebäude, Stadtviertel und Städte sie uns hinterlassen haben, werden auch wir und unser kulturelles Niveau einst an der Schönheit der heutigen Bauten, der heutigen Stadt gemessen.

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