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Die «Arisierung» der Wiener Moderne
Neue Zürcher Zeitung

Eine aufkeimende Architekturdiskussion in Österreich

Nach dem «Anschluss» wurden in Österreich nicht nur politische Bauten wie das revolutionäre Arbeitsamt Liesing von Ernst Pliscke verstümmelt. Auch viele Privathäuser von Loos, Hoffmann und Frank wurden zuerst geplündert, dann enteignet und nicht selten durch die «Ariseure» ihrer architektonischen Qualitäten beraubt. Jetzt werden diese Vorgänge öffentlich diskutiert.

7. Juni 2000 - Stephan Templ
Die Wiener Werkbundsiedlung entstand 1932, zu einer Zeit, als die Fundamente der österreichischen Demokratie bereits wacklig waren. Deshalb konnte diese bedeutende Bauausstellung kaum mehr Einfluss auf das Architekturgeschehen in Österreich nehmen. Ihr Organisator, Josef Frank, wanderte schon bald nach Schweden aus, andere beteiligte Architekten (Ernst Lichtblau, Oskar Wlach, Jacques Groag, Heinrich Kulka, Felix Augenfeld) taten dies nach 1938. Zu diesem Zeitpunkt waren die jüdischen Bewohner bereits «delogiert» - auf Anordnung jenes Mannes, der die Realisierung der Werkbundsiedlung einst betreut hatte: Hermann Neubacher, der Direktor der ausführenden Baufirma Gesiba, tauschte 1934 das sozialistische mit dem nationalsozialistischen Parteibuch und wurde 1938 Oberbürgermeister von Wien. Einige Bewohner der Werkbundsiedlung verbesserten ebenso ihre Lage. Sie zogen aus den minimalistischen Bauten in Villen um, die durch die Umsiedlung der jüdischen Mitbürger «frei geworden» waren.

Die meisten blieben nach 1945 in «ihren» Häusern wohnen. Denn die Zweite Republik mit ihren politischen Parteien sorgte sich um die Stimmen der «Ariseure» und schränkte in der Restitutionsgesetzgebung den Kreis der jüdischen Anspruchsberechtigten auf die direkten Erben ein. In diesem weiterhin latent judenfeindlichen Klima fand man auch nichts dabei, dass ein ehemals hoher nationalsozialistischer Jurist die Restitutionsgesetze verfasste: Walter Kastner, der 1938 für die «Arisierung» der Industrie zuständig gewesen war. Ein geplantes Gesetz zur Rückstellung der Mietwohnungen konnte er mit anderen Gesinnungsgenossen vereiteln: Er selbst hatte 1938 eine Wohnung in Bestlage «arisiert». Der jüngst vom österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel designierte Fachmann für Restitutionsfragen, Ernst Sucharipa, machte bereits klar, dass man sich mit derartigen Einzelfällen nicht werde beschäftigen können. - Während die 1985 vorbildlich restaurierte Werkbundsiedlung in Wien als Dokument internationalen Bauens (Lurçat, Rietveld, Neutra, Häring) hochgehalten wird, soll die Geschichte ihrer Bewohner und Architekten weiterhin nicht erhellt werden. So erhielt etwa Frank keinen Bauauftrag mehr im Nachkriegsösterreich, während einstige Nationalsozialisten ihre Tätigkeit problemlos wieder aufnehmen konnten. Die Zweite Republik hat die Opfer des Nazi-Regimes abermals bestohlen: So brüstet sie sich mit Sigmund Freud. Dessen Familie aber hat ihr geraubtes Eigentum nie zurückbekommen: weder seine Tochter Anna ihren weitläufigen Landsitz noch der Bruder sein Vermögen. Hingegen erhielten die «Ariseure» von Freuds Mietwohnung in der Berggasse 1986 von der Republik eine Ablösesumme von eineinhalb Millionen Schilling. Bei der Familie von Karl Kraus sieht es nicht anders aus, wie die Historikerin Tina Walzer nachgewiesen hat. Sein Bruder Rudolf, Vizepräsident der Julius Meinl AG, liess sich sein Haus in der Nibelungengasse von Adolf Loos umbauen. 1938 «erwarb» es die Firma Siemens-Schuckert. Sie zerstörte daraufhin die kostbaren Interieurs. Der Bauherr und seine Frau wurden in Auschwitz ermordet. Ein anderer Bruder von Karl Kraus, der Industrielle Alfred Kraus, liess sich ebenfalls von Loos die Wohnung entwerfen. Auch hier schlugen die «Ariseure» zu.

Die neuen «Besitzer» zerstörten nahezu alle Loos-Wohnungen in Wien: so auch die der Familien Löwenbach, Schwarzwald und Friedmann. Auch hier wurden die Bauherren ermordet oder vertrieben. Die Bürokraten der Zweiten Republik sorgten dann dafür, dass sie nicht wiederkamen. Sie scheuten nicht davor zurück, selbst 1949 noch auf die Legalität der Nazigesetze zu pochen. Die Rückgabe des Moller-Hauses von Adolf Loos an den Auftraggeber, den Fabrikanten Hans Moller, wurde 1949 an die Bedingung geknüpft, die seit 1938 fällige «Vermögensabgabe für Juden» an die Republik Österreich zu zahlen! Nicht nur das: Da die Villa 1938 «lediglich» beschlagnahmt und der Verwaltung des Reichsfiskus unterstellt worden war, blieb der nach Palästina emigrierte Hans Moller de facto stets grundbuchamtlicher Eigentümer. So verrechnete man ihm auch die Grundsteuer für die Jahre 1938 bis 1945. Die in dieser Zeit durch den Reichsfiskus eingenommenen Mieten hingegen behielt die Republik Österreich für sich. Diese wird noch eine Antwort darauf finden müssen, warum Adel und Kirche ihre durch die Nationalsozialisten konfiszierten Güter nach Kriegsende sofort und bedingungslos zurückbekamen, die jüdischen Besitzer aber nicht.


[ Am heutigen 7. Juni findet um 19 Uhr im Wiener Architektur-Zentrum zu ebendiesem Thema die Podiumsdiskussion «Geraubte Gärten - die arisierte Moderne» statt. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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