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Wiens Althanviertel: Als stiege man in die Unterwelt
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Ein Dachausbau am Julius-Tandler-Platz. Ein Geländesprung, der in Nussdorf beginnt. Der Phantomwettbewerb um die Neugestaltung des Althanviertels. Und was all das mit Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“ verbindet. Szenen einer Wiener Gegend.

5. Februar 2020 - Gregor Schuberth
In der Tat gälte es nur, den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb' des Lebens zu ziehen, und er liefe durchs Ganze, und in der nun breiteren offenen Bahn würden auch die anderen, sich ablösend, einzelweis sichtbar."

Heimito von Doderer, „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“


Doderers Mary K. wohnt hier nicht mehr. Das Haus Althanplatz 6 lag in unserem Rücken, während wir auf den schmalen Gerüstbrettern knapp unterhalb des Hauptgesimses herumturnten, die Bauhelme tief im Gesicht. Beladen mit Schreibunterlagen und Digitalkameras klopften wir an Putzlöchern und notierten lose Taubenstachelbänder. Bei jedem Windstoß bauschte sich die Gerüstplane wie ein Segel. Die Gesimsbalken vor unseren Nasen wirkten klobig und massiv.

Als Architekten waren wir mit dem Umbau des Eckhauses gleich rechts neben dem Franz-Josefs-Bahnhof betraut, ehemals Althanplatz 4, heute Julius-Tandler-Platz. Eine Komplettsanierung mit aufgestockten Dachgeschoßwohnungen. Heute fand die Begehung zur Abnahme der Fassade statt. Am Ende der Straßenflucht lag der Donaukanal und jener Häuserblock, hinter dem die Autotaxis, gleichmäßig den Fahrdamm überrollend, durch die Jahre fädelten. Jedenfalls von Mary K.s Fenster aus gesehen. Was sind das für Fäden, von denen Doderer spricht? Wo anfangen, ohne „Es war einmal“? Das Haus wurde 1900 baubewilligt. Also beginnen wir am chronologischen Anfang der Strudlhofstiege, wenige Jahre später. Textzitate sind kursiv gesetzt und fallweise gekürzt.

1911: Schumann fis-Moll. Am 12. Mai jenes nun schon mehrfach heraufzitierten Jahres 1911 saß der Gymnasiast René Stangeler abends gegen fünf Uhr im Sprechzimmer der k. u. k. Konsular-Akademie (der heutigen US-amerikanischen Botschaft in der Boltzmanngasse) und wartete. Er übergibt dem Akademiker Grauermann ein Billett seiner Schwester Etelka. Grauermanns Antlitz machte einen glatten und jugendlichen Eindruck über dem weinroten Kragen und dem dunkelgrünen Rock der Uniform (Stangeler im grauen Sportanzug mit braunen Wollstrümpfen). Sie gingen wenige Schritte auf dem Gang, dann öffnete Grauermann eine ebensolche weiß lackierte hohe Flügeltüre wie jene, welche in das Sprechzimmer führte. Sie bewegten sich ohne jedes Geräusch. Stangeler blickte voraus in den Raum, welchen er noch nie betreten hatte; das Grün des Parks schien durch drei hohe Fenster zugleich mit einigen Strahlenbündeln der Abendsonne, die in den weißen Fensternischen lag. Teddy Honegger spielt eine fis-Moll-Sonate von Schumann. Die Stille im Haus, das kleine Wartezimmer, die Einsamkeit des Spielenden, tropfende Sekunden vor dem langsameren Hintergrund des Zeitstroms. Renés Gesicht entknotet sich. Der Ton der Erzählung ist angeschlagen. – Der Roman ist polyzentrisch aufgebaut, es gibt keine eindeutige Hauptfigur und keine durchgehende Handlung. Vor allem in den ersten beiden Teilen dominieren Vor- und Rückblenden, in denen sich die Erzählschwerpunkte der Jahre 1911 und 1925 ständig überlagern. Manchmal ist es fast unmöglich zu bestimmen, von welcher Position aus gerade berichtet wird. Die Kontinuität der zeitlichen Handlungszentren spiegelt sich sogar in den Jahreszeiten: Ein scheinbar nie zu Ende gehender Spätsommer liegt über der Stadt.

„Doderers Mary K. wohnt hier nicht mehr, am Althanplatz 6, heute Julius-Tandler-Platz. Mary K. sähe heute eine andere Stadt.“

Die Stiege. Am Mittwoch, dem 23. August 1911, kommt es zur denkwürdigen Begegnung auf der Strudlhofstiege, wo sich Ingrid Schmeller und Stephan Semski überstürzt um zehn Minuten nach vier Uhr verabreden und vom plötzlichen Auftritt Schmeller Seniors grob unterbrochen werden. Asta und Schmelzer stehen eigentlich Schmiere und übersehen das parkende Taxi nahe der Strudlhofgasse, in dem der Vater seiner Tochter gefolgt war. Genau in jenem Moment, als der Vater das Pärchen auf der mittleren Rampe überrascht, taucht am unteren Ende der Stiege ein weiteres Grüppchen auf: Stangeler, Grauermann und Paula Schachtl sind auf anderem Wege zufällig hierher gelangt und werden Zeugen der tumultuösen Liebesszene. René Stangeler hebt die Arme, ganz beseelt: Er hat die Bühne gefunden, die er an dem Ort bereits vermutet hatte.

Als Bauwerk betrachtet, ist die Strudlhofstiege nicht besonders bedeutsam. Im Roman ist sie der Angelpunkt der Schicksale der Protagonisten. Alle Fäden laufen hier zusammen, eine magische Pforte, von grünlichem Aquariumslicht umhüllt. Wie in einem kosmischen Nebel steigt man Zeitenberge hinauf und stürzt Erinnerungshänge hinunter. In dieser Erinnerungswelt sind räumliche und zeitliche Bewegungen ident. Der Untertitel des Romans spielt darauf an: Melzer und die Tiefe der Jahre.

1925: Melzer im grünen Unterwasserlicht. Melzer fuhr aus seinen Erinnerungen und warf dabei das Kaffeegeschirr um. Jedoch blieb dieses kleine Malheur ohne Folgen (das stimmt nur eingeschränkt, eine Kette von Erinnerungen wird ausgelöst). Major Melzer, ein Mann ohne Vornamen, hat den Militärdienst quittiert und sich in der Porzellangasse zwei kleine Zimmer gemietet.

Auf dem Fell des von ihm erlegten Bären pflegt er seinen Kef, den Denkschlaf, zu halten. Asta, die Schwester René Stangelers, hat er seit 14 Jahren nicht mehr gesehen. Das Stimmungsbild seiner letzten Erinnerung an ihre Wohnung im Quartier Latin, einer Erweiterung des Elternhauses ins Nachbargebäude, zieht sich durch den Roman: der Salon nebenan, das grüne Unterwasserlicht der Jalousien, das glänzende schwarze Schweigen des Klaviers, die Gedämpftheit und Kühle, der Geruch des sommerlichen Naphthalins.

Topografie. Die Geländekante, welche die Strudlhofstiege als Bauwerk überbrückt, ist die Steilwand einer eiszeitlichen Lössterrasse, die schon dem römischen Legionslager als Schutz diente. Der Bruch beginnt in Nussdorf, verläuft parallel zum Donaukanal quer durch den 9. Bezirk bis zu Maria am Gestade (erinnert an das Donauufer einst an dieser Stelle), dem Hohen Markt und weiter bis Erdberg (Kirche Peter und Paul) und Kaiser-Ebersdorf. Zahlreiche Stiegenanlagen und Neigungen überwinden den Geländesprung: Strudlhofstiege – Himmelpfortstiege – Vereinsstiege – Berggasse.

Eine Brücke zwischen zwei Reichen. Es ist, als stiege man durch einen verborgenen Eingang in die schattige Unterwelt des Vergangenen . . . Die Gegend unterhalb der Kante ist auch ein Reich der Flüsse: früher von Als und Donau, heute von unterirdischen Wasserläufen und dem Donaukanal. Der Alserbach, die Als, wird seit dem 19. Jahrhundert in unterirdischen Gewölben geführt (Neuwaldegger Straße, Jörgerstraße, Spitalgasse, Nussdorfer Straße, Alserbachstraße). An den Straßen ist noch heute der Schwung des Bachverlaufs abzulesen. Im Bereich der Alserbachstraße, etwas unterhalb der Markthalle, quert das unterirdische Gewölbe die Geländestufe. Der Hang ist hier abgeschliffen und eben.

Frostschäden. Wir arbeiteten uns an der Fassade Stockwerk für Stockwerk nach unten. Wir stiegen sozusagen auf den Julius-Tandler-Platz ab. Der schmale Raum zwischen Fassade und Gerüstplane war mit milchig weißem Licht gefüllt wie in einer Gletscherspalte. Bloß keinen Gedanken fallen lassen hier oben, was der anrichten könnte. Farbspritzer und Frostschäden wurden notiert, jedes Putzloch fotografiert. Die archäologischen Erkenntnisse blieben gering. Der historische Stuck, die Quasten und Quader waren in den 1950er-Jahren abgeschlagen worden. Da und dort verriet ein Vor- und Rücksprung noch die Kolossalordnung der ursprünglichen Fassade, ein Stil zwischen Neobarock und Jugendstil, nicht ungewöhnlich für Häuser jener Jahre.

Draußen lag der weite Platz voll unbekannter Häuser und Wohnungen; Treppenaufgänge, glatt, oder mit sinnlosen Quasten und Spiegeln geziert, eng oder breit, mit Lift oder ohne Lift.

Hier bricht der Text am Bild der heutigen Stadt. Mary K., die aus dem Fenster blickt so wie im Roman, sieht heute eine andere Stadt. Der böhmische Bahnhof ist verschwunden, bei unserem Eckhaus und auch bei anderen Häusern ist der Putz abgeschlagen. Die Bilder synchronisieren sich nicht.

1972 bis 1975: Schwanzer/Glück/Hlaweniczka. Die Geschichte zieht durch. Althanplatz – Platz der Sudetendeutschen – schließlich, ab 1949: Julius-Tandler-Platz. Der Franz-Josefs-Bahnhof hatte durch Bombentreffer und Kriegshandlungen Schäden davongetragen, blieb allerdings der einzige Kopfbahnhof, der vereinfacht wieder instand gesetzt wurde. Die markanten Uhrtürme wurden abgetragen, die Fassade wurde „geglättet“. 1975 erfolgte schließlich der Abriss, Auftritt der Städteplaner. Architekt Kurt Hlaweniczka entwickelte das Konzept eines riesigen Quartiers über den eingehausten Bahngleisen. Der Entwurf erstreckte sich vom Julius-Tandler-Platz im Süden bis zur Spittelau im Norden – inspiriert von den Megastrukturen jener Zeit.

Von der städtebaulichen Verflechtungszone und dem Mix unterschiedlicher Nutzungen blieb auf der Platte schließlich nur ein Universitätscampus übrig. Die Kardinallösung, nämlich die Gleise zu versenken und die Fläche darüber durchlässig zu bebauen, blieb damals – wie auch knapp 50 Jahre später – stecken. Der Komplex blieb eine Barriere im städtischen Fluss. Karl Schwanzer entwarf das Kopfgebäude als schwebenden Kristall über dem Bahnhofssockel. Das sogenannte Technische Zentrum war eher ein Büro- und Einkaufszentrum mit den Resten eines Bahnhofs im Erdgeschoß. Die schematische Ausführung durch die Arbeitsgemeinschaft der Architekten Glück/Hlaweniczka/Requat & Reinthaller minderte die Prägnanz der Anlage.

„Die Neuordnung des Althanviertels, ambitioniert gestartet mit städtebaulichem Leitbild, mündete am Ende in den Status quo der 1970er.“

Der Phantomwettbewerb. Den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb' des Lebens zu ziehen, und (. . .) in der breiteren offenen Bahn würden auch die anderen (. . .) sichtbar. Das Bild des Gewebes beruht darauf, dass Fäden, miteinander verflochten, ein stimmiges Ganzes ergeben, das doch aus vielen einzelnen und unterschiedlich beschaffenen Materialien bestehen darf. Ein Gewebe oder eine Textur – als Leben, als Stadt, als Roman. Vom lateinischen Verb texere für weben, flechten (übertragen auch zusammenfügen und verfassen) lässt sich auch der Begriff Text herleiten.

Die Gegend war uns durch den Umbau vertraut, und wir nahmen an einem Architekturwettbewerb teil, bei dem ein Abschnitt der Überplattung hinter dem Bahnhof neu organisiert werden sollte. Ein Investor hatte das Areal gekauft. Bahnhof und Technisches Zentrum selbst bekamen – außerhalb des Wettbewerbs – ein Refurbishment verordnet, ein bisschen schicker und höher.

Der Sound wechselt, elektronische Musik passt besser zu langen Wettbewerbsnächten als Schumann. Blasse Gesichter im hellen Licht der Monitore. Das leichte Zischen der Hartschaumsägen, wenn die Klötzchen vom heißen Draht geschnitten werden. Die Grundplatte ist unter den vielen Styroporwürfelchen kaum noch zu sehen. Überkritzelte Ausdrucke, Lagepläne, Grundrisse, erste Renderings, an die Türstöcke geklebt. So weit zu Theorie und Praxis des Entwerfens. Die Jury entschied sich für einen Entwurf, der das Volumen der angekündigten Hochhäuser kippt und als Megastruktur über die Gleise legt. Wettbewerbstechnisch ein Lucky Punch, kein anderes Teilnehmerbüro hatte eine ähnliche Lösung vorgeschlagen. Damit war das letzte Wort noch nicht gesprochen: Knapp zwei Jahre später präsentiert der Investor ein Einreichprojekt, bei dem vom Architekturwettbewerb nichts übrig bleibt, kein Hochpark, keine Querungen, keine Neuinterpretation der Gleisüberbauung. Die Neuordnung des Althanviertels, ambitioniert gestartet mit dialogorientiertem Planungsverfahren und städtebaulichem Leitbild, in dem sogar Hochhausfenster bis 126 Meter vorstellbar waren, mündet am Ende in den Status quo der 1970er-Jahre.

Überblendung und Collage. Die Stadt aus dem Roman und die Stadt unseres Umbaus sind einander ähnlich – und unterscheiden sich. Oder genauer gesagt: die Vorstellung der Stadt des Romans während des Lesens und die Vorstellung der Stadt aus der Gegenwart. Unermüdlich laufen die Romanfiguren, scheinbar absichtslos, in einer Romanstadt herum, die jener gegenwärtigen des Lesers zumindest nahekommt. Unweigerlich überlagern sich die Vorstellungen, Szenen überblenden sich – ist dort hinten nicht gerade Eulenfeld mit dem Automobil vorbeigefahren?

Das Spiel von Überblendungen und Assoziationen ist eröffnet, Doppelbelichtungen im Kopf: Das äolische Singen der Drähte kommt heute noch vor, der Naphthalingeruch hat sich verzogen, der rot-grüne Kragen samt der Uniform ist Requisite. Die grün gestrichenen Holzlamellen im Zwischenraum der Kastenfenster sind nicht mehr üblich. Familie Siebenschein und Mary K. sind aus der Stadt verschwunden. Stangeler schwärmt nicht mehr vor der Stiege, seinesgleichen gibt es noch. Der Zungenschlag auf Döblinger Gartenpartys lässt sich vorstellen. Ein Traumgewebe als Spiel im Kopf, bevorzugt auf einer lokalen Parkbank zu vollziehen, in der Nachmittagssonne eines Spätsommertags.

Die Überblendung lässt sich zur Überlagerung weiterdenken, etwas Schweres und Materialhaftes tritt neben die fast körperlose Doppelbelichtung. Ein Umbau lässt sich vielleicht als solche Überlagerung beschreiben, in der Methode der Collage. Der bestehende Baukörper wird mit hinzugefügten Teilen vermischt, unterschiedliche Bauglieder werden verbunden, ausgeschnitten, verändert und neu montiert. Ein Vorgang, bei dem verschoben, verdrängt und überlagert wird. Eine grobe und schmutzige Angelegenheit mit Staub, Presslufthämmern und Baugerüsten.

Ein gelungener Umbau wäre daran zu erkennen: Bezüge stellen sich her, überraschende Verbindungen entstehen im Gewebe der Umgebung. In anderen Worten: Die Vorstellungswelt wird um lebendige Bilder bereichert, die anschaulich wirken, Altes und Neues verknüpfen und ohne „Es war einmal“ auskommen.

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