Artikel

Als das Glas noch hygienisch war
Neue Zürcher Zeitung

Der geschmolzene Quarzsand stand einst für das Nichts, für Luft – und für Hygiene. Nun lernen wir, dass Viren auf Glas besonders gut überleben.

22. April 2020 - Sabine von Fischer
Das Virus wird nach vier Stunden schwächer, oder nach 48, vielleicht auch erst nach vier Tagen, niemand weiss es. Unter anderem hänge die Lebensdauer des Coronavirus von den Oberflächen ab, schreiben die Experten: Es überlebe womöglich nur wenige Stunden auf Papier, aber vielleicht Tage auf Glas oder Metall. Die Zeitung also dürften wir demnach gefahrloser in die Hand nehmen als das Material, das in der Auffassung der Moderne für den Durchbruch der Hygiene schlechthin stand: das Glas.

Auch der Arzt, so dichtete der Autor und Zeichner Paul Scheerbart im Jahr 1914, habe «ein grosses Interesse» am Bauen mit Glas. Der geschmolzene Quarzsand sei eine hygienische Alternative zum traditionellen Mauerwerk, in dem der Backsteinbazillus lauere. Je glatter, desto sauberer also. Und erst noch schützt Glas vor der Witterung, ohne das Licht zu tilgen. Enthusiastisch läutete Scheerbart für sich und seine Zeit die «Glasarchitektur» ein und widmete ihr ein Buch mit 111 Oden.

Glatt, aber nicht lustig

Die Glaskultur verband den glasbegeisterten Dichter mit dem Architekten Bruno Taut, der ihm dann seine farbig schillernde Glaskuppel widmete: Das prismatische Polygon war die Attraktion der Kölner Werkbundausstellung von 1914. Es hätten sich «bereits grosse Industrien gebildet, die wohl eine grosse Zukunft in allernächster Zeit haben könnten», lobte Scheerbart die gläserne Pracht der Glasbausteine, die so stark wie Eisengerippe sein könnten und, «feuersicher und Licht durchlassend», dem Metall in jeder Hinsicht also überlegen seien.

Die Ultraviolettstrahlung wurde verehrt, lichtdurchflutete Räume wurden angepriesen. Die Sonneneinstrahlung diene der Gesundheit, draussen wie drinnen. Ludwig Mies van der Rohes berühmter Barcelona-Pavillon von 1929 liess das Licht auch auf einer Wasseroberfläche spiegeln und führte das Auge an den Horizont, als ob es gar keine Wand mehr gäbe. Mies’ Glas, so durchsichtig wie Luft, war eine Art gebautes Nichts und wurde zum paradigmatischen fliessenden Raum der Architekturmoderne. Aber der Mythos von Mies’ Glasflächen wurde zerschlagen, als die spätere Rekonstruktion vielerlei Spiegelungen zeigte. Für den Architekten Josep Quetglas war der Pavillon sogar «Der gläserne Schrecken». Seine glatten Oberflächen erschienen ihm als «Abgrund», dem alle Heilsversprechen abhandengekommen waren.

Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus erscheinen in diesem Licht wie der sanfte Auftakt für den Horror, der dann im späten 20. Jahrhundert mit der Glasarchitektur verbunden wurde: «Spiegel: Noch nie hat man wissend beschrieben, was ihr in euerem Wesen seid. Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben erfüllten Zwischenräume der Zeit.»

Ein Mythos in Scherben

Im späten 20. Jahrhundert verlor die Glasarchitektur ihre Anhänger. Man musste sich vor der Sonne schützen, auf der eigenen Haut mit einer Crème gegen Sonnenbrand und in Gebäuden mit einer Beschichtung gegen die Wärmeeinstrahlung. Die Verehrung der Sonnenstrahlen wie auch die Sonnenanbetung in Glashäusern kam aus der Mode, und von Hygiene dank der Architektur redete niemand mehr.

Rilkes Spiegel und mit ihnen alle Gläser lassen uns ratlos, wenn wir wissen möchten, welche Oberflächen nun gefährlich für unsere Gesundheit seien. Womöglich tagelang könnten – wir wissen es nicht – kleine Erreger auf dem einst für seine hygienischen Vorteile gerühmten Glas sitzen.

Der Traum einer Glasarchitektur, wie Taut sie sich einst erdachte, liegt in Scherben. Glas ist nicht wie Luft und auch nicht das Nichts. Es spiegelt vor unseren Augen, und berührt von unseren Händen könnte es noch Unheimlicheres tun. Glas ist eben doch nicht unsichtbar, die winzigen Viren mit Kronen-Namen aber schon. Da wünscht man sich direkt die Backsteinbakterien und den für jeden Laien sichtbaren Schimmel zurück. Diese leben zwar länger als die Coronaviren, sind aber auch besser erkennbar.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: