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Glamour in der Fabrik: Eine lapidare Kiste feiert die Schokolade
Neue Zürcher Zeitung

Das Lindt Home of Chocolate inszeniert mit grossen Kurven und wilden Drehungen die Pionierleistungen der Schweizer Chocolatiers. Dabei würdigt es zuallererst das Handwerk und die Produktion.

19. September 2020 - Sabine von Fischer
Am Zürcher Seeufer verbindet sich der Charme gealterter Backsteinmauern mit dem Glanz eines Neubaus, der in der obersten Museumsliga mitspielen will. Wer zu schnell vorbeifährt, könnte fast übersehen, dass hinter der historischen Fabrikfassade in der Tiefe des Fabrikareals eine weiss glänzende, geschwungene Front den Eingang ins Lindt Home of Chocolate weist.

Lokale Tradition verbindet sich hier mit internationalem Glamour: Seit dem 19. Jahrhundert wird Schokolade aus Kilchberg in die ganze Welt exportiert. Die Grossbuchstaben über der Strassenfront sagen nun nicht mehr «Lindt & Sprüngli» wie anno 1899, sondern demonstrieren mit «Maître chocolatier suisse» selbstbewusst Weltoffenheit – und in der zweiten Reihe dann mit dem englischen Namen des Museums auch den Anschluss an die neue Globalsprache. Die Lettern an der Seestrasse genauso wie in der hinteren Reihe sind in Gold gehalten, etwas anderes wäre nicht gut genug.
In der zweiten Reihe

Sonst riecht es auf dem ganzen Fabrikareal nach Schokolade, rattert und rüttelt es hinter metallgefassten Fensterfronten. Bescheiden zeigt auf dem südseitigen Parkplatz ein rostiges Schild immer noch zum ehemaligen Schoggi-Shop am Bahndamm. Und wer die Fabrikanlage von Norden her entlang dem neuesten Bauwerk betritt, sieht dort nur eine riesige Wand aus naturbelassenen Ziegeln. Die Laderampe bestätigt: Hier, zwischen Wohnbauten an attraktiver Lage am linken Zürichseeufer, wird immer noch, und bis auf weiteres, Süsses hergestellt.

Die gleiche ziegelrote Backsteinfassade säumt auch die lange Seite des neuen Hallenbaus. Dessen Architekten Christ & Gantenbein haben mit ihren Museumsbauten internationale Bekanntheit erlangt, aber hier merkt man wenig von den grossen Ambitionen. Rundherum nehmen rote Ziegelsteine über Schichten aus fahlrot eingefärbtem Mörtel die Sprache der bestehenden Industriebauten auf, sogar das Metall der Fensterrahmen und Storen ist in dieses helle Ziegelrot getaucht. Einzig der Fries, der oben an der Wand um das ganze Haus läuft, erinnert an das Kunstmuseum Basel. Sonst ist das Schokolademuseum in Kilchberg von aussen vor allem eine Hommage an die Fabrik von Lindt & Sprüngli in Kilchberg, wo seit dem Wegzug aus Bern in den 1890er Jahren Schokolade produziert wird.

Das Museum sei im Grunde genommen eine lapidare Box, die sich ins Fabrikareal integriere, erklärt der Architekt Emanuel Christ. Das einzige Ereignis sei der ausgeschnittene Eingang, der etwas Neues ankündige. «Früher schlichen die Leute um die Gebäude herum, viele machten einen Stopp im Schoggi-Shop, aber es war eine eigenartige Situation. Heute ist neben dem Museum auch die Fabrikanlage eine Sehenswürdigkeit. Dass die Bauherrschaft auf einem Restgrundstück in der zweiten Reihe mit dieser grossen Halle einen Magneten kreiert hat, wertet die Fabrikanlage als Ganze auf.»

Eine glänzend weiss glasierte Backsteinwand markiert in der matt ziegelroten Kiste den Eingang und setzt den Auftakt zur Innenwelt des Museums. Die Einbuchtung fasst einen grossen, zentralen Platz, wo früher nur ein Durchgang war. Zwischen Produktions- und Verwaltungsbauten staunt man nun an Café-Tischen über das Überleben einer Fabrik an einem Ort, der woanders längst einer Neuplanung anheimgefallen wäre. Statt es mit Wohnungen oder Dienstleistungen neu zu besetzen, wird das Industrieareal hier zum Erlebnis stilisiert.
Die Fabrik als Erlebniswelt

Drinnen dann, wo sich das Weiss der Eingangsfassade fortsetzt, wird die hohe Kunst der Schweizer Schokoladeproduktion zur Schau gestellt. Der geschwungene Einschnitt in der Backsteinfassade war erst der Anfang: In der Halle entfaltet sich ein Raumerlebnis von Drehungen und Kurven, kreisförmige Öffnungen werfen Lichtspiele auf die Wände, riesige Pilzstützen zeichnen Rundungen auf die Decke, sie ragen hinaus in den offenen Raum und hinein in die Raumschichten. Balkone, halbkreisförmige Auswölbungen und Wendeltreppen schreiben die Drehbewegungen weiter. Dieses Museum ist vielleicht nicht das edelste, aber sicher das wildeste unter den Museumsbauten der Basler Architekten Christ & Gantenbein.

Die verschiedenen Drehbewegungen sorgen für ein räumliches Spektakel und binden gleichzeitig die beiden Teile des Hallenbaus zusammen: Seeseitig liegen die Raumschicht mit Museum, Shop, Schoggi-Atelier und Lounge, hangseitig interne Einrichtungen wie Infrastruktur, Testanlage, Research-Development, Büros. Über das wilde Formenspiel treten sie in einen Austausch. Auch der Besucherrundgang quert am Ende die Halle, die wie in einer amerikanischen Shopping-Mall auch Atrium genannt wird. Gekostet hat das Ganze 100 Millionen Franken, dafür gibt es nun über 20 000 Quadratmeter Fläche für das grösste Schokolademuseum der Schweiz, den grössten Schokolade-Shop der Welt und viele andere Publikums- und Firmenbedürfnisse, inklusive Tapeten wie derjenigen mit Gussformen aus dem firmeneigenen Archiv, die täuschend echt dreidimensional wirken.

Wer aus der weissen Welt der Halle in die Black Box des Museumsrundgangs wechselt, wird mit allen Sinnen ins Universum der Schokoladeherstellung getaucht. Eingangs wird in der multimedialen Szenografie des Ateliers Brückner zwischen einem Blätterwald von Kakaopflanzen der Ursprung des Kakaos in Südamerika und Afrika auf wandfüllenden Zeichnungen und interaktiv auf Bildschirmen nachgezeichnet. Hier geht es um Schokoladekompetenz am Standort Schweiz weit über die eigene Marke hinaus: Suchard, Tobler, Peter und Cailler werden als Protagonisten und Pioniere gefeiert.

Nachhaltigkeit ist auch ein Element dieser Erzählung. Hier präsentiert die von Ernst Tanner präsidierte Lindt Chocolate Competence Foundation verschiedene Modelle und Labels, zum Beispiel UTZ und Rainbow Alliance, und eben auch das hauseigene «Farming Program». Im Gegensatz zu anderen Herstellern kauft Lindt & Sprüngli die Bohnen von Bauern, die diesem 2008 etablierten Programm angeschlossen sind, und übernimmt so selbst die Kontrolle über die ökologische und soziale Nachhaltigkeit der Produktion. Der Weg «from bean to bar» bestimmt den gesamten Museumsrundgang. Auf den zwei neuesten Lindt-Packungen ist er sogar mittels QR-Code abrufbar und so nachvollziehbar, wie eine Produktionskette sein kann, wenn sie auf Websites oder eben wie hier im Museum auf Bildschirmen und Texttafeln nacherzählt ist.

Augen, Ohren, Nase werden angesprochen, die Geruchsstation ist allerdings zurzeit Corona-bedingt geschlossen. Zuweilen ereilt einen trotzdem das Déjà-vu, schon wieder ein Touchscreen, ein animiertes Erklärvideo, ein Sternenhimmel, das gab es auch schon in anderen Museen zu ganz anderen Themen in derselben Form. Hier kommen die Testanlage und die Schau-Produktionsanlage dem Besucherrundgang zugute. Wie in den Clean Rooms der Lebensmitteltechnologie und in den White Cubes der modernen Museen sind die Räume dieser Anlagen in Weiss gehalten: Das Marmormuster der Böden leuchtet hell und sauber, der Beton der riesigen Pilzstützen ist weiss lasiert.

Black Box und White Cube: Fast läuft das Home of Chocolate Gefahr, in überkommene Stereotype abzusacken: die Ausstellung in einer Black Box mit viel Bildschirminstallationen, der repräsentative Raum der Halle als Museumsarchitektur in Weiss. Allerdings wurde gerade diese reinweisse Ausstellungskonvention des 20. Jahrhunderts vor nicht allzu langer Zeit von denselben Architekten infrage gestellt, als sie im Kunstmuseum Basel mit grauem Marmor und dunklen Hölzern eine Atmosphäre jenseits des White Cube herstellten.

Die Riesenkiste ist nicht so monumental und edel wie das Kunstmuseum Basel und nicht so eklektisch und dynamisch-schräg wie das Schweizer Landesmuseum in Zürich, deren Entwürfe aus derselben Feder stammen. Diese Kiste ist Christ & Gantenbeins bisher gewagtester Museumsbau, gerade weil er sich nicht scheut, im Äusseren ganz alltäglich zu sein – und innen dann leidenschaftlich bewegt in unregelmässig gesetzten Kräftefeldern aus Rundbalkonen, auskragenden Ufo-Lounges und stoischen Pilzstützen, die alle Lasten tragen und dem Raum seinen Ausdruck geben.

Dank dem neun Meter hohen «Schoggibrunnen» riecht es bis in alle Ecken der in Weiss gehaltenen Halle nach Schokolade. Fürs Auge allerdings schafft die Skulptur es kaum, mit der aus einem goldenen Riesenschwingbesen herabrinnenden braunen Flüssigkeit den Raum zu bespielen, und auf der Höhe der Besucher gibt es ohnehin nur noch braunes Plastik ohne Genusswert. Was der Schoggibrunnen aber leistet, ist die Verbindung zum umliegenden Fabrikgelände über den olfaktorischen Sinn: tief einatmen und dann ab in den Shop. Dort übrigens sind, ebenfalls im Dialog mit der Umgebung, Backsteine auf die Tapete aufgedruckt.
Kurven bis zum Schmelzpunkt

Architektur und Schokolade finden in einer Drehbewegung zusammen: Die Kreisformen im Raum erinnern eben an die ikonische Lindor-Kugel und auch an die Conchiermaschine, die Lindt & Sprünglis Schmelzschokolade so erfolgreich machte. Aber vielleicht ist dies nur ein humorvoller Nachgedanke im Delirium des Schokoladedufts. Christ & Gantenbein zeigen mit dem Home of Chocolate die Bandbreite ihres Vokabulars und auch ihrer Referenzen. Grosse Meister der Architektur wie Louis Kahn haben schon im letzten Jahrhundert im Salk Institute in San Diego Beton als Kreisbogen und Zylinder in eine feste Form gegossen. Hier in Kilchberg allerdings ist alles kleiner und durch die variierten Abstände der Pilzstützen auch verspielter – passend zur Schokolade eben, die mehr auf den Genuss als auf den Verstand zielt.

Als Emanuel Christ und Christoph Gantenbein an der ETH Zürich, wo sie nun Professoren sind, in den 1990er Jahren studierten, war die minimalistische Kiste das international bekannte Markenzeichen der Schweizer Architektur. Unterdessen ist viel passiert, die Architekten sind durch die Welt gereist, haben auch im Ausland gelehrt und sogar Robert Venturis Postmoderne liebgewonnen. So hat der Lindt-&-Sprüngli-Neubau mit der perfekten Schweizer Box kaum mehr etwas gemeinsam, sondern eher mit einer glorifizierten Lagerhalle, die nun mit den goldenen Lettern an der Fassade wie einst Venturis berühmte Skizze rufen darf «I am a monument».

Das war nicht immer so. In der ersten Phase des Studienauftrags, zu dem fast alle Entwerfer berühmter Schweizer Museen eingeladen waren, hatten sie noch eine in goldenes Trapezblech gehüllte Museumskiste präsentiert: Wie die Glitzerfolie aber beim Verzehr der Lindor-Kugeln entfernt wird, so fiel auch die goldene Hülle. Der Backstein der Aussenmauern liegt nackt am historischen Pilgerweg, dem der öffentliche Durchgang durch die Fabrikanlage zu verdanken ist. Diese frei begehbare interne Fabrikstrasse ist eine weitere Besonderheit der Kilchberger Anlage und kommt dem Areal insbesondere jetzt, da ein Museum und mit ihm ein grosser Platz diese innere Strasse erweitern, zugute.

Die Einbindung des Museums ins Fabrikareal über die rohen, ziegelroten Backsteinfassaden, über den Geruch und über die offengelegte Tragstruktur der Pilzstützen sind der grösste Asset dieser Architektur. Glanz und Gloria ist mit dem Werbeträger Roger Federer bei der internationalen Kundschaft ohnehin gesichert. Die Frage aber, wie Industrieareale in die Zukunft geführt werden können, ist im Modellfall der Lindt-&-Sprüngli-Fabrik vorbildlich beantwortet. Es braucht weder einen Totalabriss noch eine radikale Verjüngungskur. Eine städtebauliche Akupunktur, wie sie der Museumsbau in der zweiten Reihe einer historischen Gebäudegruppe hier leistet, macht auch Produktionsbetriebe wie diese Schokoladefabrik zum integralen Teil der zeitgenössischen Stadt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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