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Einfamilienhaus-Update: Individualisierung ohne Abstandsgrün muss erst noch erfunden werden
Neue Zürcher Zeitung

Lange war das Einfamilienhaus der bauliche Ausdruck der Persönlichkeit jedes Einzelnen. Unterdessen aber stehen die uniformen Kisten nur noch für die Ideenlosigkeit der Architektur und zerstören die Landschaft. Eine Idee hat sich selbst überlebt, was kommt danach?

25. September 2020 - Sabine von Fischer
Der Traum vom Einfamilienhaus ist zum Albtraum der Nation geworden: Kleine Boxen haben sich über Jahrzehnte durch die Wiesen, Hügel und Täler der Schweiz gefressen. Und sie tun es weiter, nur langsamer, weil eine Mehrheit für ein neues Raumplanungsgesetz gestimmt hat. Ob Häuserbauen und Individualität allerdings in einem zwingenden Zusammenhang stehen, ist fraglicher geworden denn je.

Jede Generation formuliert ihre eigenen Ideale. Darum braucht es dringend ein Update zu Martin Heideggers vielzitierter und lange gültiger Überlegung in «Bauen Wohnen Denken», als er das Bauen mit dem Sein und das Wohnen mit der Einbettung und Erfüllung des Daseins in der Welt gleichsetzte. Das neue Raumplanungsgesetz regelt nun, dass nur bei nachweisbarem Bedarf noch mehr gebaut werden darf. Träume von der Selbstverwirklichung im eigenen Häuslein reichen für diesen Nachweis nicht.

Wie dringend ein Update der Wohnideale geworden ist, zeigen nicht erst die Luftaufnahmen der vom Siedlungsbrei zerfressenen Landschaften, sondern ganz aus der Nähe die Ausgestaltungen der Eingänge und Vorgärten. Garagentore und gestutzte Hecken reihen sich gleichförmig hinter geebneten Vorfahrten und Abstandsgrün. Als bauliche Manifestationen der menschlichen Existenz erzählen sie von Sehnsüchten nach friedlicher Abgeschiedenheit. Dies scheint angesichts der heutigen helvetischen Platzverhältnisse vollkommen aus der Zeit gefallen. Jetzt, da die Urbanisierung und Verdichtung das Land umgeformt hat, wünscht man sich vor allem mehr Abwechslung im städtebaulichen Einheitsbrei, etwas Freiraum, irgendeinen Ausdruck der Freude am Leben.

Die Krise der Zersiedlung

Vielfalt ist zum neuen Architektenlieblingswort für die Beschreibung von Gebäudetypen, Wohnungsgrössen und der Aussenraumgestaltung geworden. Darin liegt das Versprechen, dass auch in dichten Siedlungsstrukturen mit verschiedenen Funktionen individuelle Bedürfnisse genügend Platz finden. Gleichzeitig zeichnet sich angesichts der immergleichen Eigenheime, in denen die bisherigen Generationen ihr Glück zu finden glaubten, eine Ernüchterung ab. Die Sehnsucht der Jungen richtet sich auf neue Ziele, denn gleichförmigere Quartiere als Eigenheimwüsten gab es in ihren Augen seit den Plattenbauten nicht mehr. Zwar sind die Schweizer Wohnbauten kleiner, aber im Wesen nicht minder monoton als die planwirtschaftliche Massenware. Die idyllischen Einfamilienhäuser sind als Albtraum von uniformen Überbauungen in einer versehrten Landschaft angekommen.

Unter dem Anblick dieser lieblosen Wohnlandschaften leiden vermutlich mehr Menschen als unter dem Lärm von Autobahnen und Anflugpisten. Wir blättern in Ferienprospekten und schwärmen von belebten Plätzen und der Vielfarbigkeit von Fassaden, wo jeder Bewohner des auch noch so grossen Wohnbaus seiner Individualität Ausdruck gibt. Was aber in der Ferne gefällt, zählt nicht im gleichen Mass in der Heimat. Hier dominiert am Strassenrand die Hecke, die klarmachen will: nicht in meinem Garten oder, wie es im Englischen in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der zögerlichen Verdichtung öfters kritisiert wurde: «not in my backyard». Alle wollen verdichten – bloss nicht da, wo man selbst wohnt. Da braucht es am besten noch etwas extra Grün oder ein Fertigbauteil aus dem Baumarkt, Hauptsache, Abstand zum Nachbarn.

«Yes in My Backyard»

Hier setzt die amerikanische Yimby-Bewegung an: «Yes in My Backyard», «Ja, in meinem eigenen Garten». Damit ist gemeint: Nur wenn wir im eigenen Garten und in der eigenen Nachbarschaft beginnen, wird eine Veränderung möglich sein. Yimbys hinterlegen ihr Konzept mit Zahlen und zeigen, dass in der derzeitigen Entwicklung zwar kleine durch grössere Gebäude ersetzt werden, dass aber am Ende doch weniger Menschen auf dem gleichen Grundstück wohnen. Solche Fakten wurden auch hierzulande schon veröffentlicht, weshalb die sogenannten Ersatzneubauten und Neubauten in letzter Zeit in Verruf gekommen sind. Viel eher werden Ergänzungsmodelle erprobt, in denen ans Bestehende angebaut wird.

Ein anderes Konzept aus den USA, das weltweit Nachahmer gefunden hat, ist die Tiny-House-Bewegung. Klein, kleiner, am kleinsten: Das «Tiny House Immergrün», das derzeit an der Aargauerstrasse in Zürich Altstetten aufgestellt ist, unterschreitet mit seinen 17 Quadratmetern Grundfläche die amerikanische Obergrenze von 37 Quadratmetern bei weitem. So winzig ist es, dass nicht jeder sich vorstellen kann, Tag und Nacht hier drinnen zu verbringen. Doch der grosse Erfolg der Tiny-House-Idee bezeugt das Interesse und auch den Handlungsbedarf, das Privathaus neu zu formulieren: vielleicht eben viel kleiner, vielleicht veränderbar, auf jeden Fall anders als das konventionelle Einfamilienhaus.

Dabei ist das Zürcher Mini- oder besser: Mikrohaus, entworfen von einem jungen Duo mit dem programmatischen Namen Kollektiv Winzig, dank Solartechnik auch stromautark und dank seiner neongrünen Farbe durchaus singulär, jedenfalls ein Farbtupfer in der Landschaft. Auch anderweitig will dieser Prototyp für ein Kleinsthaus zur Individualität des zukünftigen Wohnens beitragen, indem es beispielsweise einen Generationenwechsel im Zyklus einer Wohnsiedlung auffangen kann.

Nicht totsagen, sondern verjüngen muss man die halbleeren Einfamilienhäuser und entlegenen Siedlungen. Dafür plädiert auch der Journalist und Einfamilienhausbesitzer Stefan Hartmann im Untertitel seines kürzlich erschienenen Buchs: «Eine Wohnform in der Sackgasse». Seine breit angelegte Geschichte zum Schweizer Einfamilienhaus fasst die allgemeine, auch die eigene Desillusionierung schon im Titel mit dem eingeklammerten K: «(K)ein Idyll» (Triest-Verlag, 2020). Jetzt, da die Kinder ausgezogen sind, wäre es vielleicht auch an der Zeit, selber den Schritt in eine andere Wohnform zu wagen? Es geht Hartmann nicht um das Ende des Traums vom Eigenheim, sondern um dessen nächste, zukunftsfähige Form.
Lebenszyklen zulassen

In seiner Tour d’Horizon durch die Geschichte des Einfamilienhauses kommt Hartmann nicht darum herum, den Stadtwanderer und lautesten Zersiedlungskritiker der Schweiz, Benedikt Loderer, zu zitieren, der das Einfamilienhüsli als Bastard beschreibt: «Sein Vater war das proletarische Siedlungshaus, seine Mutter die bürgerliche Villa.» So charmant beschrieb noch keiner diesen Bautyp. Zu ergänzen wären hier nur noch die Kinder aus dieser Heirat: Neben der verbauten Landschaft eben auch die Fertigteilindustrie, der die stereotype Erscheinung der einzelnen Hüsli geschuldet ist.

Hartmann wiederum belegt mit Zahlen, dass immer weniger Menschen diesen Traum vom individuellen Wohnen hinter ewiggleichen Fassaden und Vorgärten leben wollen: In einem Viertel des Schweizer Einfamilienhausbestands wohnen nur noch ein oder zwei Personen über 65 Jahre. Die Blütezeit situiert der Autor in den 1980er Jahren, als die Bedingungen zur Ausbreitung der «Hüslipest» dank erschwinglichem Bauland und Hypotheken mit wenig Eigenmitteln hervorragend waren. Doch hoffnungslos beurteilt er die Situation in seinem faktenreichen Buch nicht: «(K)ein Idyll» benennt auch zahlreiche Transformationsmodelle, in denen Häuser im Dienst einer bautypologischen Vielfalt und einer höheren Bewohnerdichte umfunktioniert, geöffnet und erweitert werden könnten.

Dies ist zwar einfacher gesagt als getan, trotzdem gibt es bereits zahlreiche Umsetzungen dieser neuen Ideen, die sich auch zeigen lassen: So wird am Wochenende des 26./27. September in Zürich das Tiny House seine Klappen öffnen, und auch klassischere Wohnungstüren werden aufgeschlossen (siehe openhouse-zuerich.org). Die Architekten Sancho Igual und Yves Guggenheim beispielsweise haben in Altstetten ein Ein- durch ein Mehrfamilienhaus für 28 statt der bisherigen 5 Bewohner ersetzt, der Wohnflächenverbrauch pro Person halbiert sich so vom schweizerischen Durchschnitt auf beinahe die Hälfte, nämlich 23 Quadratmeter.

Der Traum vom individuellen Wohnen ist mit diesen Minimalwohnflächen nicht vergessen, er nimmt nur andere Formen an. Das Bauen und Wohnen nach dem Einfamilienhausboom berücksichtigt vermehrt auch die Lebenszyklen der Einzelnen, schliesslich verändern wir uns über die verschiedenen Lebensphasen meist schneller als ein Haus. Diese Überlegungen zur Zukunft der Hüsliquartiere nehmen neben der Vielfalt der Wohnungsgrössen auch ein vielseitiges Angebot an Aussenflächen in den Fokus.
Hinterhöfe zu Allmenden

Bespielbare Freiflächen statt Abstandshecken und eine Auswahl an Aktivitäten statt Einheitsgrün sind zentral in diesen Konzepten, die über die uniformen Fassaden hinaus «out of the box» denken. Früher oder später werden die Gartenzäune neue Umrisse entlang der längst umgebauten Häuser zeichnen, und die Städte werden trotz höherer Dichte mehr Platz zur individuellen Gestaltung der Zwischenräume bieten. Statt leere Vorgärten sauber zu halten, wäre endlich Platz für etwas mehr Spielraum für Wohn-Träume aller Generationen, auch im Sinn einer nachbarschaftlich bewirtschafteten Allmend, die ausserhalb der parzellierten Flächen Möglichkeitsräume für alle öffnet.

Individualisierung wird in unserer Gesellschaft grösser geschrieben als je zuvor, doch das einstige Symbol dieser modernen Errungenschaft hat abgedankt. Das Einfamilienhaus, von dem man einst glaubte, es sei jedes Bauwerk so besonders wie seine Bewohnerinnen und Bewohner, hat gleichförmig vom Thurgau bis in den Kanton Waadt die Landschaft versehrt und die Menschheit nicht weitergebracht. Auf den Verkaufsportalen und erst recht zwischen den Fertigprodukten für Haus und Garten wird immer klarer: Nicht mehr normierte Häuschen, sondern ganz kleine und viel grössere Baukörper werden uns die Freiheit geben, entsprechend unseren Träumen zu wohnen.

[ Stefan Hartmann: (K)ein Idyll – Das Einfamilienhaus. Eine Wohnform in der Sackgasse. Triest-Verlag, Zürich 2020. 176 S. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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