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Die Schule der Gottlosigkeit – meine jugoslawische Bildhauerei
Neue Zürcher Zeitung

Wer je zwischen Zagreb, Belgrad und Sarajevo unterwegs war, dem haben sich die bizarren Mahnmale der Tito-Zeit ins Gedächtnis gebrannt. Der Autor Bora Ćosić beschreibt seine Affinität zum Skulpturalen als Teil eines grösseren balkanischen Gestaltungswillens.

27. September 2020 - Bora Ćosić
Ich habe mein Leben in der Nähe vieler Meister der Bildhauerkunst verbracht. Ich verwende diesen Ausdruck, weil die Beschäftigung mit der Skulptur für mich vor allem eine ungeheure Meisterschaft darstellt, ein Handwerk, in dem Begabung, Idee und Geist mit starken Händen, denen eines Michelangelo, zusammenfliessen. Ich denke, die Bildhauerei hat etwas Gottloses an sich, denn soweit ich mich erinnere, besagte das religiöse Dogma, dass der Mensch keine Statue oder Gestalt erschaffen dürfe, weil das ein göttliches Werk sei und kein menschliches.

Zum Glück hatte ich bereits in den ersten Klassen der Grundschule eine Lehrerin, die mich entdecken liess, dass es in unseren kleinen Händen etwas wie ein Werkzeug gibt, mit dem es möglich ist, eine ganze neue Welt zu erschaffen. So bildeten unsere kleinen gekneteten Hasen-, Hühner- und Eidechsenmodelle eine elementare Idee im kindlichen Bewusstsein ab: Ausser der sichtbaren und alltäglichen Welt gibt es noch etwas, und das lässt sich mit den eigenen Fingern erschaffen.

Bei meinen südlichen Völkern gibt es seit je die alte Begabung, Menschen- oder Tierfiguren in Ton, Stein oder Holz zu gestalten; da sind das grandiose Renaissance-Portal der Kathedrale in Trogir aus den Händen des Meisters Radovan, die berühmte Plastik an der Kathedrale in Šibenik, zwei wunderschöne Frauenköpfe des Dalmatiners Laurana, der auch den Palazzo Ducale in Urbino errichtet hat, und die weltbekannten Skulpturen von Ivan Meštrović. Einen besonderen Platz in dieser Geschichte der Skulpturen nehmen die Stelen ein, diese einzigartigen Menhire sind zu Tausenden auf dem bosnischen Raum ausgesät, Steinblöcke, die nicht nur Grabstellen darstellen, sondern auch bildhauerische Leistungen, verziert mit floralen, tierischen und menschlichen Zeichen wie eine komprimierte, harte Enzyklopädie des menschlichen Lebens und Todes.

Das Mädchen unter dem Schleier

Für mich sind auch weniger bekannte Skulpturen wichtig – wie die von Ubavkić im Belgrader Museum: die Gestalt eines Mädchens unter einem Schleier, die aus weissem Marmor besteht. Die neuere Zeit verzeichnet ausserdem zahlreiche Skulpturen ungebildeter, aber beeindruckender Bildhauer unter unseren Bauern, Handwerkern und Hausfrauen, die naive Kunst Europas kommt ohne Bogosav Živković, Petar Smajić und die faszinierende kroatische Bäuerin Baba Penavuša nicht aus. Dass man einen modellierten Gegenstand mit so verschiedenen Mitteln herstellen und dabei unerwartete Materialien und eine besondere Technik verwenden kann, davon konnte ich mich viel später überzeugen, denn ich war darin auch selbst verwickelt. In einem nach einem meiner Bücher gedrehten Film gibt es eine burleske Szene: Meine linke weltrevolutionäre Familie bekam eine Marzipantorte auf den Tisch, diese hatte jedoch die Form von Stalins Kopf, womit sich ein paar Konditoren aus dem Hotel «Metropol» in die Bildhauerei als kreativen Akt eingemischt haben.

So vergingen meine Kindheit und meine frühe Jugend neben den Bronzereitern auf Plätzen und den Skulpturen berühmter Personen in Parks, ohne dass ich anfangs daran gedacht hätte, dass es sich um Werke menschlicher Hände handelte, im Glauben, ihre Entstehung habe etwas Selbständiges, Eigenes an sich. Dann lernte ich die ersten Meister dieser Arbeit kennen, und mit ihnen habe ich all die übrigen Jahrzehnte verbracht. Es gab ein zartes Mädchen, das seine Bildhauerei jedoch betrieb, als errichtete es ein Industrieobjekt: Olga Jevrić war die Schöpferin von aus grobem Beton gemachten Skulpturen, deren Stahlarmierung aus den Kuben hervorsah wie die Rippen eines Verletzten. Es war erstaunlich für mich zu sehen, wie eine grazile junge Frau mit dem Rohstoff von robusten Baumeistern umging – und dies, während ich in ihrem Atelier sass und ihre Betonarbeit verfolgte. Dazu erklang ein zartes Adagio von Mahler, ohne das sie keine Lust hatte, diese Arbeit auszuführen.

Dann kam ich Dušan Džamonja näher, der gerade aus seiner Jugend unter Zinzaren im Süden Serbiens gekommen war und den grandiosen Skulpturenpark im istrischen Vrsar hinterlassen hat und dessen mit Nägeln verzierte Kugeln einmal den ganzen Pariser Place Vendôme geschmückt haben. Branko Ružić, ein lieber Gast an meinem Tisch in Rovinj, hat seine Denkmäler aus Bronze und Holz errichtet, und als er einmal einen Verkehrsunfall erlitt, verlegte er sich auf kleine Stücke aus Papier, ein Papp-Jesus hängt noch immer an meiner Wand in Rovinj.

Blume aus Stein

Der grösste Name der neueren jugoslawischen Architektur war mein Bruder im Exil während des letzten Kriegs, Bogdan Bogdanović. Bei ihm mischen sich ebenfalls zwei menschliche Schöpfungen, weil das Denkmal für die Opfer des Faschismus in Jasenovac, das der Welt als Steinblume bekannte Monument, mehr ist als eine Plastik oder eine Skulptur. Er hatte, wie viele andere Baumeister, in jedem Raum seines Lebens immer eine Menge Zeichnungen, denn um etwas zu errichten, muss man zuerst wissen, wie.

Das bezieht sich auch auf die Bildhauerei. Wir müssen uns an die Pappdeckel von Buonarroti erinnern, die auf den Dachböden, in den Bruchbuden und Wohnungen dieses Genies mit der in der Kindheit gebrochenen Nase herumlagen. Gerade dieser Tage kam eine Handvoll überlebender Lagerhäftlinge nach Dachau. Um ihr ehemaliges Lager zu betreten, mussten sie unter einem Metallpanneau, einer perforierten Skulptur, hindurchgehen, die aus zahlreichen Symbolen für menschliche Qual und Pein gemacht ist. Dieses Gebilde schuf Nandor Glid, ein Belgrader Jude, der mehr ist als mein Zeitgenosse, hat er doch in meiner direkten Nachbarschaft gewohnt!

All diese mir lieben Menschen sind heute tot, der Bildhauer von der Sutjeska ist einer der letzten. Es gibt auch eine Geschichte, eine Familiengeschichte. Meine Grossmutter war ein Adoptivkind der Familie, aus der Vojin Bakić hervorgegangen ist, einer der Grössten in der kroatischen Bildhauerei. Sein Monument von Petrova Gora für die Partisanenkämpfer, ganz mit Metall gepanzert wie der Stahlkopf aus der Volkserzählung, wurde im Bürgerkrieg, der Jugoslawien zerstörte, schwer beschädigt und verwüstet.

Hier müsste man dann ein besonderes Kapitel der Geschichte unserer Bildhauerei aufschlagen, nämlich das der in den letzten Jahrzehnten durch verrückte, unmenschliche Aktionen vernichteten Bildhauerkunst. In der modernen Kunst gibt es tatsächlich die Praxis, Monumente, Skulpturen und Statuen negativen Inhalts zu errichten, das, was unser Dichter Vasko Popa «Bauen von Trümmern» genannt hat. So haben wir eine Menge räumlicher Werke bekommen, die aus Abfällen bestehen, solche, die wie bereits verwüstet, verstümmelt und beschädigt wirken.

Schändung der Geschichte

Dem ist die ganze Bewegung der Konzeptkunst hinzuzufügen, deren Exponate eher Installationen darstellen als fertige Ganzheiten. Dies wurde möglicherweise gerade von der zerstörerischen Praxis der Krieger, Umstürzler und blossen Räuber inspiriert, die keine künstlerischen Absichten hatten, sondern retrograde und mörderische. So füge ich in dieser kleinen Geschichte unserer Bildhauerei all den dauerhaften Werten meiner Menschen, gearbeitet in Stein, schweren Herzens die zerschlagenen Denkmäler hinzu, von denen da und dort nur ein Pferdehuf, irgendwo lediglich der Fuss eines vernichteten Helden, manchmal bloss der Sockel einer Statue geblieben ist, mit zerkratzter Aufschrift und getilgten Namen.

Vor kurzem ist Miodrag Živković gestorben, der namhafte serbische Bildhauer, bekannt für sein Denkmal in Tjentište am bosnischen Fluss Sutjeska, wo sich im Jahre 1943 die grösste Schlacht zwischen den Kämpfern Titos und den deutschen Okkupanten abgespielt hat. Dort stehen jetzt zwei künstlich errichtete Steinwände, die den Engpass symbolisieren, durch den die Partisanen hindurchmussten, wobei das Denkmal nicht nur etwas Architektonisches an sich hat, sondern auch einem natürlichen Gebilde gleicht.

Zum Glück ist dieses Monument bisher unangetastet geblieben, niemand rührt es an, wenn es auch keine besonderen Feiern am Ort der berühmten Schlacht gibt. Ich denke, der Staat Kroatien, der, in dem ich geboren bin, hält landesweit den Rekord in der Vernichtung von Denkmälern, weil neben vielen guten Menschen dort weiterhin Leute leben, die bereit sind, die eigene Geschichte zu zerstören und abzuschaffen.

[ Der serbische Schriftsteller Bora Ćosić, Jahrgang 1932, lebt in Berlin und Rovinj. Zuletzt ist 2019 bei Folio der Band erschienen: «Immer sind wir überall. Reisen in Italien und Österreich». – Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Griesshaber. ]

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