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Mehr Luft!
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Fakt ist: Wien leidet im Sommer an Überhitzung. Dass nun ausgerechnet die Frischluftschneise an der Westeinfahrt durch Bauvorhaben beschränkt werden soll, ist mehr als bedenklich.

10. Oktober 2020 - Stephanie Drlik
Wir alle wissen es aus eigener Erfahrung, auch die Forschung hat das Thema mehr als gründlich aufgearbeitet, und der gesunde Menschenverstand gibt dem sowieso recht: Grünräume sind enorm wichtig für eine Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Die unzähligen gesellschaftlichen, kulturellen und funktionalen Aufgaben von Freiräumen und die ebenso wichtigen Ökosystemleistungen des Grünraums machen seinen hohen Wert aus. Und vor den großen Herausforderungen der jüngsten Vergangenheit scheint diese Bedeutung weiter zu wachsen. Sowohl die Covid-19-Pandemie als auch die schon länger präsente Klimakrise haben aufs Neue bewiesen, dass ein Leben in der Stadt ohne Grün- und Freiräume nicht qualitätsvoll, ja sogar gesundheitsgefährdend sein kann. Das werden all jene Wienerinnen und Wiener bestätigen, die während des Corona-bedingten Lockdowns vor den alternativlos gesperrten Bundesgärten standen. Oder auch Bewohnerinnen und Bewohner dicht bebauter Innenstadtbezirke, denen während extremer Hitzewellen im Sommer kühlendes Grün zur Nutzung ihres Wohnumfelds fehlt. Für das gesunde Leben in der Stadt ist der urbane Grünraum also essenziell. Um in den derzeit aktuellen Jargon des Krisenmanagements einzustimmen, könnte man auch sagen: Grün ist systemrelevant.

„Systemrelevante Infrastruktur Stadtgrün“ heißt daher auch eine aktuelle Fotoschau der Österreichischen Gesellschaft für Landschaftsarchitektur, die in ihrem „Haus der Landschaft“ im Wiener Sophienpark, krisenfest und thematisch passend, im Freien ausgestellt wird. Bei der Betrachtung der gezeigten Bilder des auf Landschaften spezialisierten Fotografen Johannes Hloch wird schnell klar: Es gibt unterschiedliche Dimensionen der Systemrelevanz. Parkanlagen sind etwa dann systemrelevant, wenn sie in einem dicht besiedelten Stadtteil für viele Menschen die einzige Grünversorgung darstellen. Wichtig sind sie auch dann, wenn in ihr seltene Tierarten leben oder wenn sie aufgrund ihrer Lage eine wichtige stadtklimatologische Funktion erfüllen.

Dringend notwendige Kühlung

Die Bundeshauptstadt Wien leidet, wie viele andere europäische Großstädte, an sommerlicher Überhitzung. Das steigert die Systemrelevanz des Wiener Stadtgrüns, und so wird aktuell eine Vielzahl von Maßnahmen gesetzt, um die Situation zu entschärfen. Doch längst nicht jede Initiative ist gleichermaßen sinnvoll oder nachhaltig. Schon klar, nicht jede Freiraumintervention muss durch ihre Systemrelevanz überzeugen. Und gerade die Klimawandelanpassung macht auch punktuell gesetzte, reaktive Symptombekämpfungen notwendig. Daher sind auch die derzeit vielfach eingesetzten Wasservernebelungsanlagen gerechtfertigt, die vor allem in Straßenräumen bei extremer Hitze Abhilfe schaffen sollen. Klimawandelanpassung ist eben ein Stück weit auch experimentell, denn die Situation ist ungewiss, und wir werden flexibel bleiben müssen. Erweist sich die Idee mit den Sprühnebelduschen als nicht so gut, so werden wir es verkraften. Anders gelagert ist die Situation mit städtebaulichen oder infrastrukturellen Eingriffen. Hier sind Experimente nicht angebracht, denn einmal passiert, schaden Fehler viele Jahrzehnte. Die Wiener Stadtregierung sollte also neben wahlkampftauglichen Sofortmaßnahmen im Klimawandel den Fokus auf das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren.

Gerade in Sachen Stadtklima gibt es in Wien einige neuralgische Grünräume, die als Teil des urbanen Grün- und Freiraumverbandes auf den gesamten Stadtraum wirken. Einer dieser systemrelevanten Stadträume ist die Frischluftschneise im Westen Wiens, die vom Wienerwald über das Wiental bis in die dicht bebauten Stadtteile innerhalb des Gürtels führt. Entlang des abschnittsweise begrünten Wienflusses wird die frische, kühle Luft vom Stadtrand in die Stadt transportiert. Der Bereich gilt daher auch als Klimaanlage des Wiener Westens. Bereits in frühen Stadtentwicklungsplänen der 1980er-Jahre wird dieser „Grünzug Lainzer Tiergarten ins dicht bebaute Gebiet“ in seiner Bedeutung als erhaltenswerter Freiraum hervorgehoben. Nun gibt es hitzige Debatten um zwei strittige Vorhaben innerhalb dieser Frischluftschneise, deren weiterer Verlauf für die Lebensqualität im Westen Wiens richtungsweisend sein könnte.

Zum einen diskutiert man den Umgang mit brachliegenden Flächen und demnächst aus der Nutzung fallenden Bahninfrastrukturanlagen entlang der Westbahn zwischen Westbahnhof und Hütteldorf. Die Bevölkerung wünscht sich auf einem 1,2 Kilometer langen Abschnitt als Alternative zur herkömmlichen Immobilienverwertung einen Westbahnpark. Aktivistinnen und Aktivisten sprechen nicht nur von einer Jahrhundertchance für Wien, sondern auch von einer Jahrhundertverpflichtung in Sachen Klimawandel. Denn es wird einen maßgeblichen Unterschied machen, ob der viele Hektar umfassende Bereich bebaut wird, oder ob er als begrünter Freiraum die Kühlung der Stadt unterstützt. Vonseiten der Stadt gibt man sich bislang abwehrend.

Fünfspurig in Hietzing

Zum anderen werden bereits sehr konkrete Pläne im Bereich der Wiener Westausfahrt verfolgt, die viel befahrene Straße von der bisherigen Infrastrukturlinie entlang der Westbahngleise auf die Seite des Lainzer Tiergartens zu verlegen und mit den Fahrspuren der Westeinfahrt zu bündeln. Die Zeit drängt, denn die in Verwendung befindliche Brückenkonstruktion ist baufällig, das Vergabeverfahren läuft bereits. Zur baulogistisch leichteren Abwicklung, die Westausfahrt könnte ohne Unterbrechung in Betrieb bleiben, und zur Kostenersparnis hat sich die zuständige Magistratsabteilung für Brücken- und Grundbau daher für eine fünfspurige Variante auf der Hietzinger Seite entschieden. Doch die Einsparung geht auf Kosten des dicht bewachsenen Böschungsbereichs des Wienflusses, der als Erholungsgebiet genutzt wird.

Aus Sicht der Abteilung für Brückenbau hat die zugegebenermaßen vereinfachte Baulogistik der Lösung durchaus Sinn. Die Systemrelevanz der Frischluftschneise hat bei ihren Überlegungen aber vermutlich keine Rolle gespielt. Auch nicht, dass das Projekt die Zufuhr der kühlen Luft bereits am Stadteingang drosselt und dadurch ihre innerstädtische Wirkung mindert. Weil solch schwerwiegende Entscheidungen immer viele Expertisen vereinen müssen, hat sich die Wiener Praxis bewährt, derartige Vorhaben nicht von einzelnen Magistratsabteilungen ausarbeiten zu lassen, sondern mithilfe offener, transparenter, partizipativer und interdisziplinärer Planungsverfahren zu entscheiden. Warum diese Vorgehensweise diesmal nicht zur Anwendung kam, konnte trotz zahlreicher Rückfragen eigentlich niemand so genau beantworten. Warum sich die sonst so Grün-affine Planungsstadträtin nicht auf die Seite des Umwelt- und Klimaschutzes stellt, auch nicht.

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