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Neue Zürcher Zeitung

„Bauwelt Berlin Annual“ blickt auf 1998

29. Mai 1999 - Claudia Schwartz
Zum wiederholten Mal schickt sich Berlin im ausgehenden Jahrhundert an, Kapitale eines deutschen Staates zu werden. Das im Basler Birkhäuser-Verlag erscheinende «Bauwelt Berlin Annual» hat sich im Jahresrhythmus eine «Chronik der baulichen Ereignisse» vorgenommen, die mit der aktuellen Ausgabe für das Jahr 1998 nun ihr drittes Kapitel schreibt. Dabei legen die Herausgeber Martina Düttmann und Felix Zwoch im neuen Band ihren Schwerpunkt auf bau- sowie stadtbezogene Entwicklungen und versammeln neben architekturspezifischen Beiträgen Essais zum Berliner Zeitgeschehen.

Auch wenn am Potsdamer Platz die Presslufthämmer noch nicht verstummt sind und sich das Ballett der Kräne weiterdreht, zeichnet sich hier der Übergang vom werdenden in den definitiven Zustand bereits ab. Die diffuse Vision einer «europäischen Stadt» hat sich zum Festzustand gefügt, zum «Nebeneinander unterschiedlichster Formen». Das Zentrum der Projektionen des neuen Berlin, die Schnittstelle zwischen Ost und West, ist mittlerweile bevorzugte Sonntagspromenade der Hauptstädter in spe zwischen Imax- Kino und Luftballonverkäufern. Kaye Gaipel versucht den vom «Ballast grosser Metaphern freigestellten» Blick und findet in Renzo Pianos in Rekordzeit entworfenem Stück Stadt ein urbanes Segment, das die Bindeglieder nach aussen vermissen lässt.

Martina Düttmann zeigt anhand von Nicholas Grimshaws Ludwig-Erhard-Haus für die Berliner Industrie- und Handelskammer, wie die sprichwörtliche baurechtliche Zähmung - im vorliegenden Fall zwischen dem Willen zur Konstruktion und dem Strassenfluchtplan - nicht immer für Berlin spricht: das wegen seiner gebogenen Glasfassade auch «Gürteltier» genannte Gebäude präsentiert sich heute einseitig in die Schranken verwiesen. - Viele reden von Axel Schultes' werdendem Bundeskanzleramt im Spreebogen, aber den meisten ist der Zugang noch verwehrt. Felix Zwoch hat sich deshalb schon einmal umgesehen und dokumentiert minuziös in Bild und Text das allmähliche Hochwachsen des Rohbaus. Währenddessen spricht fast niemand mehr vom Alexanderplatz, weshalb Florian Profitlich bei den Leuten nachgefragt hat, was man vom «Alex» hört, dem einstigen zentralen Dreh- und Angelpunkt der Hauptstadt der DDR, wo sich immer weniger Ostberliner hin verirren und die Hochhäuser dastehen wie Findlinge.

Das «neue Berlin» regt an zur sentimentalischen Betrachtung über die grossen Bilder in ihrer neuen Gemäldegalerie ebenso (Philip Moritz Reiser) wie zur ernüchternden Bestandesaufnahme der feinen Geschäftspaläste zwischen Checkpoint Charlie und Pariser Platz, in denen es an nichts fehlt ausser an Leben (Hildegard Loeb-Ullmann). Und wo auf der einen Seite des Scheunenviertels die autonome Republik im Tacheles «noch aushält», sucht auf der anderen Seite der «Investor des Jahres» die richtige Mischung von Einzelhandel und Wohnen. Die richtige Mischung haben mit ihrem «Nummernvariété» nicht zuletzt die Herausgeber gefunden, denen es in vielfältiger Perspektive aufzuzeigen gelingt, wie Berlin allmählich zu sich selbst kommt.

[Bauwelt Berlin Annual 1998. Hrsg. Martina Düttmann und Felix Zwoch. Birkhäuser-Verlag, Basel 1999. 192 S., Fr. 68.-.]

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