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Wenn Pflanzen Paternoster fahren
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Der Österreicher Othmar Ruthner versuchte in den 1960er-Jahren, mit vertikalen Gärten den Pflanzenanbau zu revolutionieren. Er scheiterte. Doch die Idee erlebt eine Renaissance: In New York wird auf Wolkenkratzern Gemüse angebaut, das dann unten im Supermarkt verkauft wird.

15. Juli 2021 - Peter Payer
Es wirkt wie ein übrig gebliebenes Skelett. Verwachsen und mittlerweile fast eins geworden mit den umgebenden Büschen und Bäumen. Und doch verbirgt sich hinter dieser unscheinbaren Installation eine technische Innovation, die einst von Wien aus um die Welt ging. Die Rede ist von jenem Eisengerüst, das sich im Kurpark Oberlaa, auf dem Gelände der ehemaligen WIG (Wiener Internationale Gartenschau) 74, befindet. Es sind letzte Erinnerungsstücke an ein bemerkenswertes Experiment. Grüne Wegweiser mit der Aufschrift „Turmglashaus“ führen noch heute hierher; eine Tafel verrät die ursprüngliche Bestimmung des Ganzen: „Kontinuierliche Produktionsanlage für Pflanzen und Pflanzeninhaltsstoffe – System Ruthner.“ Was bedeutet: Hier stand einmal ein Turmgewächshaus zum Zwecke der Pflanzenzucht.

Begonnen hatte es zehn Jahre zuvor, auf der WIG 64. Es war die Zeit, als Wien sich erneut als Weltstadt zu positionieren begann und dazu im Donaupark eine ausgedehnte Gartenschau, die europaweit größte, ins Leben rief. Stolz präsentierte man von Frühjahr bis Herbst nicht nur Tausende Sträucher und Blumen, auch neue technische Attraktionen sorgten bei Besuchern wie in den Medien für Furore: der Donauturm mit seinem Expressaufzug etwa, ein Sessellift, eine Kleinbahn oder eben ein „Turmglashaus“, in dem vorgeführt wurde, wie die voll automatisierte Pflanzenaufzucht der Zukunft aussehen könnte.

Rekordernte vom grünen Fließband

Das vertikale Glashaus befand sich nicht weit vom Donauturm entfernt, war längst nicht so elegant wie dieser, aber mit seinen 41 Metern Höhe, seiner runden, 50 Quadratmeter großen Grundfläche und seinem transparenten Aussehen doch ein beachtlicher Eye-Catcher. In seinem Inneren herrschte reger Betrieb: Insgesamt 35.000 Pflanzentöpfe, in eigenen Hängevorrichtungen montiert, fuhren unentwegt im Paternoster-Prinzip auf und ab, wurden dabei automatisch besprüht, gedüngt und gewässert. Oberstes Ziel war es, möglichst gleiche klimatische Bedingungen für alle Pflanzen zu bieten. Der Ertrag war beachtlich. Gezogen wurden vor allem Blumen wie Primeln und Veilchen, und frisches Gemüse wie Tomaten, Paprika und Salat. All das wurde sodann gleich direkt in den acht Restaurants auf dem Ausstellungsgelände weiterverwendet.

Die Öffentlichkeit war begeistert. In- und ausländische Medien berichteten darüber, sprachen von einer „Weltsensation“ und einer „Revolution im Pflanzenbau“. Sogar die „New York Times“ lobte die ingenieurwissenschaftliche Meisterleistung, die – so die große Hoffnung – eine von Klima und Standort weitgehend unabhängige Landwirtschaft vorstellbar machte und mit dazu beitragen könnte, die Ernährungsprobleme der Welt zu lösen.

Erfinder dieser Weltneuheit war ein heute weitgehend vergessener Österreicher, der Wiener Ingenieur Othmar Ruthner (1912–1992). Er war bereits in den 1930er-Jahren als Unternehmer in Niederösterreich tätig, galt als Experte im Bereich des Maschinenbaus und der elektrochemischen Industrie – und als überaus innovativ. Schon 1945 war er Inhaber von 30 Patenten und Patentanmeldungen. Kurz nach Kriegsende gründete er in Waidhofen an der Ybbs eine Fabrik zur Stahlerzeugung und -veredelung, die rasch expandierte und bald mehr als tausend Arbeiter beschäftigte. Daneben machte Ruthner als einer der ersten in Österreich erfolgreich Experimente mit der industriellen Verarbeitung von Kunststoffen.

„Die Pflanze kommt zum Gärtner“

Anfang der 1960er-Jahre wurde er für seine Verdienste dann auch mehrfach geehrt: Die Technische Hochschule in Wien verlieh ihm den akademischen Titel Ehrensenator, der Bürgermeister von Waidhofen an der Ybbs ernannte ihn zum Ehrenbürger der Stadt, und vom Bundespräsidenten erhielt er das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Othmar Ruthner war – wie es schien – im Zenit seiner Karriere; er hatte bis dahin 80 verschiedene Verfahren entwickelt und verfügte über mehr als 200 eigene Patente. Doch nun ging der rastlose Innovator auch noch daran, den Pflanzenbau zu revolutionieren. Im Jahr 1964 gründete er die Ruthner Industrieanlagen für Pflanzenbau GmbH und promotete unermüdlich seine Idee des Turmgewächshauses.

Zwar wurde die Anlage im Donaupark nach Beendigung der Gartenschau abgebrochen, doch in den kommenden Jahren konnten zahlreiche weitere Türme in verschiedenen, meist kleineren Varianten errichtet werden, neben Österreich etwa in Deutschland, der Schweiz, Norwegen, Polen, Russland, Kanada bis hin zu Libyen und Saudiarabien. Insgesamt weltweit etwa 25 Stück. Fasziniert berichtete der „Spiegel“ von der fast greifbaren Utopie einer Rekordernte im Fließbandtempo, und das mit minimalem Arbeitsaufwand: „Ein einziger Arbeitsmann genügt, das grüne Uhrwerk in Gang zu halten. Nach dem Ruthner-Motto ,Die Pflanze kommt zum Gärtner‘ lässt er die Gondeln zu sich heranschweben, stoppt sie für die Zeit der nötigen Handgriffe und setzt dann den Paternoster wieder in Bewegung. An einem Kontrollpult bestimmt er mittels Knopfdrucks die richtige Zusammensetzung der Nährlösung und die erwünschte CO2-Begasung; Messinstrumente geben ihm Aufschluß über Wurzelfeuchtigkeit, Temperatur und Lüftungsstrom.“

Dank der Forschungen der beiden Historiker Werner Sulzgruber und Christian Hlavac wissen wir mittlerweile Genaueres über die Turm-Standorte in Österreich und die unterschiedlichen Konstruktionen, die man hier im Lauf der Jahre, insbesondere zur Verbesserung der Durchlüftung, erprobte. So wurden die ersten beiden Prototypen des Ruthner-Turms eigentlich bereits 1963/64 im niederösterreichischen Langenlois errichtet (elf bzw. 22 Meter hoch), und nach der WIG 64 folgten weitere Türme in Wiener Neustadt und Imst in Tirol und schließlich jener in Oberlaa.

Das Technische Museum Wien besitzt in seinem Archiv einige Prospekte von Ruthners Pflanzenproduktionsfirma. Bilder und Texte verdeutlichen die Fortschrittlichkeit und radikale Modernität seiner Idee der „kontinuierlichen Gewächshäuser“. Und seine anhaltend große Vision, die da lautete: „Bald werden wir zwischen Wäldern aus durchsichtigen Pfeilern wandeln.“

Die Zuversicht des Erfinders sollte sich jedoch als verfrüht erweisen. Zwar verstärkte Ruthner nochmals seine fachlichen Kompetenzen (1972 beendete er sein Studium an der TU, zwei Jahre später hängte er einen Diplomingenieur am Institut für Biochemie und Lebensmitteltechnologie daran), dennoch: Der Betrieb seiner Türme blieb durch hohe Baukosten, vor allem aber durch zu hohe Energiekosten für den Antrieb des Aufzugs und die notwendige Luftumwälzung letztlich unrentabel. Ende der 1980er-Jahre beendete die Firma daher ihre Tätigkeit in diesem Bereich.

Sämtliche Türme verschwanden von ihren Standorten, wurden sukzessive demontiert – außer jenem in Wiener Neustadt. Das frühe, sechseckige Exemplar stammte aus den Jahren 1964/65, wies eine Höhe von knapp zehn Metern auf und war bis zum Jahr 2006 auf dem Gelände der städtischen Gärtnerei in Betrieb, ehe es 2017 abgebaut und zwischengelagert wurde. Werner Sulzgruber, Stadthistoriker von Wiener Neustadt, hat die Geschichte und Konstruktion des Objekts penibel dokumentiert. Alle wichtigen Einzelteile, von Stützen und Transportketten über Ventilator bis hin zu Kuppel und Motor, sind erhalten und harren der Wiederaufstellung bzw. musealen Verwendung.

Ein technikhistorisches Denkmal also, dem gerade heute steigende Bedeutung zukommt. Denn die Idee des „Vertical Farming“ erlebt seit geraumer Zeit eine Renaissance. Insbesondere in dicht verbauten Großstädten, wo es nicht so viel Platz für flächenintensive Landwirtschaft gibt, die Nachfrage nach Nahrungsmitteln jedoch anhaltend hoch ist. Beispiele in Südkoreas Metropolen oder in New York zeigen beachtliche Erfolge. So gibt es in der US-amerikanischen Megastadt bereits zahlreiche Wolkenkratzer, auf deren Dächern großflächig Gurken, Tomaten oder Mangold angebaut und sodann unten im Supermarkt verkauft werden. Und auch der Gemüseanbau in mehreren Etagen ist mit modernen Hightech-Methoden längst technisch machbar. Bis zu 400-mal höhere Erträge als auf dem flachen Land machen die neuen City-Farmen rentabel und für die Konsumenten zunehmend erschwinglich. Ganz abgesehen von der ökologischen Sinnhaftigkeit. Denn angesichts des anhaltenden Trends zur Urbanisierung scheint es ein Gebot der Stunde, nach nachhaltigen Möglichkeiten zur Ernährung der rapide wachsenden Stadtbevölkerung zu suchen. Ganzjährige Kultivierung, geringe Fläche und kurze Lieferwege sprechen mehr als eindeutig für die vertikale Landwirtschaft.

Dickson Despommier, amerikanischer Vertical-Farming-Guru der ersten Stunde, spricht voller Überzeugung von der „nächsten landwirtschaftlichen Revolution“. Und auch in Österreich wird die Diskussion über „urban food“ intensiv geführt. Letztes Jahr etwa bei den Alpbacher Technologiegesprächen, bei denen auch der Wiener Architekt Daniel Podmirseg referierte. Er griff Ruthners Idee schon früh auf, gründete das Vertical Farm Institute und gehört heute zu den gefragtesten Experten auf diesem Gebiet.

Gemeinsam mit seinem interdisziplinären Team hat er inzwischen mehrere Varianten eines modernen vertikalen Gewächshauses konzipiert. Nächstes Jahr soll im Zukunftshof Rothneusiedl (dem ehemals für seine Selbsternte-Initiativen bekannten Haschahof) in Wien Favoriten ein großes Pilotprojekt eröffnet werden. In einem Holzturm mit vier mal sechs Metern Grundfläche und 25 Metern Höhe wird – ganz nach Ruthners Vorbild – ein Paternoster-System mit Pflanzentrögen installiert. Diese bewegen sich langsam, in Summe etwa vier bis fünf Mal am Tag, von oben nach unten und erhalten somit alle gleich viel Tageslicht. In Kombination mit modernster Energieversorgungs- und Bewässerungstechnik sollen so das ganze Jahr über Lebensmittel produziert werden.

Voller Tatendrang und durchaus optimistisch geht Podmirseg hier der Zukunft der Stadt entgegen, getreu seinem Motto „Es ist zu spät, um Pessimist zu sein“. Erfahrungen aus der Vergangenheit sind dabei mehr als hilfreich. Podmirseg, der auch das Privatarchiv von Ruthners Sohn Oswald betreut, träumt davon, auch den alten Ruthner-Turm in Oberlaa zu revitalisieren. Wien wäre damit, historisch wie aktuell, ein international einzigartiger Vorzeigeort des „Vertical Farming“.
Peter Payer

Der Historiker und Kurator im Technischen Museum Wien erhielt vergangenes Jahr den Pro-Civitate-Austriae-Preis für Stadtgeschichte, 2019 den Conrad-Matschoß-Preis für Technikgeschichte. Zahlreiche Publikationen, darunter „Stille Stadt. Wien und die Corona-Krise“ (mit Christopher Mavrič). Der Band „Auf nach Wien. Kulturhistorische Streifzüge“ erscheint im September im Czernin Verlag.

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