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Schlossruinen und Stadtpaläste
Neue Zürcher Zeitung

Der Klassizist Heinrich Christoph Jussow in Kassel

29. Juni 1999 - Roman Hollenstein
Man kennt ihn von der Documenta: den diskreten Charme der fünfziger Jahre von Kassels Innenstadt. Auch wenn sich die «Treppenstrasse» und das AOK-Gebäude am Friedrichsplatz sehen lassen dürfen, so erinnert doch nur wenig an die vergangene Pracht der nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs schnell wiederaufgebauten Stadt: Hier herrschten einst ebenso kunstsinnige wie architekturbegeisterte Landgrafen. Sie liessen im Barock und Klassizismus die ursprünglich von Hugenotten bewohnte Oberneustadt bauen, die zusammen mit dem Schlosspark Wilhelmshöhe den Ruhm Kassels als eine der schönsten Städte weit und breit begründete. Doch was davon im Krieg nicht unterging, wurde in den Wirtschaftswunderjahren mutwillig vernichtet. Als prominentes Beispiel darf die Unterneustädter Kirche des Kasseler Meisterarchitekten Heinrich Christoph Jussow (1754-1825) gelten: einer der ersten klassizistischen Sakralbauten in Deutschland.


Zwischen Revolution und Romantik

Diesem grossen Unbekannten des deutschen Klassizismus widmet nun das Museum Fridericianum in Kassel eine prachtvolle Ausstellung. Sie gewährt erstmals einen gültigen Überblick über Jussows Schaffen und führt zu neuen Erkenntnissen bezüglich der Genese von Schloss und Bergpark Wilhelmshöhe. Die von Christiane Lukatis konzipierte Schau kann sich auf bisher unpubliziertes und kaum je präsentiertes Material aus der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel stützen, deren architektonische Abteilung bis auf Landgraf Moritz zurückgeht. Obwohl dieser schon vor 400 Jahren begonnen hatte, eine «Bibliothecam architectonicam» aufzubauen, und auch seine Nachfolger reiches Material zusammentrugen, kam der Nachlass Jussow erst 1957 aus Privatbesitz dazu. Erste Bemühungen um dessen wissenschaftliche Bearbeitung verliefen im Sand. Doch seit Hans-Christoph Dittscheids Dissertation über Schloss Wilhelmshöhe regte sich neues Interesse, das nun zur Präsentation des «ganzen Jussow» führte: in Form eines die Ausstellung begleitenden Katalogs und einer CD- ROM, die rund 1000 Blätter zugänglich macht.

Die Argumentation der Ausstellung basiert ganz auf dem zeichnerischen Werk. Dieses wird in chronologisch-thematischer Form gezeigt und mit Blättern von Simon Louis Du Ry, Charles de Wailly, Peter Joseph Krake, Friedrich Weinbrenner und Leo von Klenze stilkritisch verglichen. Dabei kann sich Jussow als genialer Zeichner behaupten, der sich seinen Projekten in ungezählten Varianten annäherte. In dieser tastenden Arbeitsweise spiegelt sich einerseits eine frühmoderne Recherche, anderseits die Sprunghaftigkeit seines wichtigsten Auftraggebers, des Landgrafen Wilhelm IX. von Hessen-Kassel. Bereits Wilhelms Vater, Landgraf Friedrich II., hatte Jussows architektonische Begabung entdeckt und ihn - mit einem Reisestipendium versehen - nach Paris zu de Wailly geschickt, der gerade an einem Entwurf für Schloss Weissenstein (die heutige Wilhelmshöhe) arbeitete. Schnell eignete sich Jussow den raffinierten Zeichenstil de Waillys und das Formenvokabular der Revolutionsarchitektur eines Claude-Nicolas Ledoux an, dessen 1775 vorgelegten Entwurf zur Umgestaltung des Fridericianum er wohl schon aus Kassel kannte.

Im ersten, mit Antonio Chichis kostbaren Korkmodellen nach antiken Bauten stimmungsvoll arrangierten Ausstellungsraum sind Jussows Pariser Studien und Kopien neben Zeichnungen ausgestellt, die der Zeitgenosse Goethes 1785/86 auf seiner italienischen Reise angefertigt hatte. Nahm er in Rom die Baukunst des Altertums vorab mit den Augen Piranesis wahr, so berauschte er sich im Veneto an Palladio. Noch unter dem Eindruck von Antike und Renaissance bereiste er danach im Auftrag Wilhelms IX. England, um sich mit den damaligen Strömungen der Gartenkunst und mit der neugotischen Mode vertraut zu machen. Vom Zusammenklang all dieser Einflüsse profitierten seine Arbeiten am Bergpark Wilhelmshöhe, an dem er seit 1788 mit viel Erfolg arbeitete. Bald konnte er denn auch seinen Mentor und Vorgesetzten Du Ry ausstechen, und zwar mit einem revolutionär überhöhten klassizistischen Entwurf für das Corps du logis, den zentralen Palast des Schlosses Wilhelmshöhe.


Erhaltene und verlorene Meisterwerke

Über mehrere Säle verteilen sich die Entwürfe für die Wilhelmshöhe, Jussows eigentliches Hauptwerk. Unter seiner Ägide wurde der weitläufige, in strenger Axialität bis hinauf zum «Herkules» ansteigende Barockpark mit alpinen Wasserfällen, antiken Tempeln, römischen Aquädukten und mittelalterlichen Ruinen zu einem von raffinierten Wasserspielen belebten Landschaftsgarten, ja zu einem «Theme Park» avant la lettre ausgebaut. Hier konnte sich Jussow - angestachelt von William Chambers und Lancelot Brown - als Meister zwischen Revolution und Romantik beweisen, der alle Register des Schönen und Sublimen, des Intimen und Pathetischen beherrschte. Noch heute fasziniert diese Anlage, auch wenn die im Krieg schwer beschädigte Löwenburg, einer der frühsten neugotischen Bauten auf dem Kontinent, gegenwärtig zu Tode restauriert und Schloss Wilhelmshöhe, das bei den Bombardements seine Kuppel verlor, von Stephan Braunfels ohne dieses entscheidende Bauelement zu einem zeitgemässen Museum umgebaut wird.

Dabei wäre hier für einmal eine Rekonstruktion durchaus am Platz gewesen. Dies um so mehr, als fast alle anderen Bauten Jussows in Kassel verlorengingen, gar nie oder nur in redimensionierter Form realisiert wurden. So konnte Jussow die Unterneustädter Kirche, für die er eine der ersten dorischen Tempelfassaden des deutschen Klassizismus entworfen hatte, nur verkleinert bauen und von der Platzgestaltung am Wilhelmshöher Tor einzig das Fürstenhaus, ein Eckgebäude sowie die - noch erhaltenen - Wachthäuser verwirklichen. Und während das gigantische Schloss Chattenburg, das sich in der Ausstellung monumental aufspielen darf, nicht über die Fundamente hinaus gedieh, blieb das ganz vom Geist der Revolutionsarchitektur durchdrungene Zollgebäude an der Fulda wie so viele andere Entwürfe Papier. Unter diesen ist vorab das um 1800 für Braunschweig projektierte Palais Veltheim zu nennen, dessen wunderbare Blätter einen Höhepunkt der Schau und zugleich die streng klassische Antithese zur romantisch verspielten Löwenburg darstellen. (Bis 18. Juli)


[ Heinrich Christoph Jussow. 1754-1825. Ein hessischer Architekt des Klassizismus. Ausstellungskatalog mit CD-ROM. Hrsg. Hans Ottomeyer und Christiane Lukatis. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1999. 280 S., DM 50.- (in der Ausstellung). ]

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