Artikel

Rhapsodie in Gelb
Der Standard

Meine drei Monate in einer Wundermaschine des Wohnens, zwischen Füchsen und Futurismus und mit sehr viel Glas. Das Leben in einem Haus von Richard Rogers.

24. Dezember 2021 - Maik Novotny
Das Begrüßungskomitee kam über Nacht. Es hatte vier Füße und scharfe Zähne. Der Fuchs hatte die Schnürsenkel meiner Laufschuhe, mit denen ich gleich am ersten Tag die Weiten von Wimbledon Common erkundet hatte und die ich mit gatschverkrusteten Sohlen vor der Glasfront stehenließ, lustvoll zerfetzt. Später sollte ich von der Nachbarin erfahren, dass es nicht einer, sondern gleich drei Füchse waren, die hier ihr Revier hatten. Einer von ihnen habe vor Jahren ihren Schoßhund Pippa entführt, der schließlich nach drei Wochen im Fuchsbauexil zerzaust und verwirrt, aber an Lebenserfahrung reicher zurückgekehrt war.

Wimbledon Village ist ein Dorf, eines von vielen in London, mehr Land als Stadt, und Wimbledon Common ist weniger Park als 350 Hektar britische Wildnis, in der man jeden Moment erwartet, dem Personal eines Brontë-Romans oder einer Gruppe Hobbits zu begegnen. Mitten im Dorf, gegenüber der Wildnis: zwei knallgelb gerahmte, eingeschossige Boxen. Das Haus, das der junge Richard Rogers 1968 gemeinsam mit seiner Frau Su für seine Eltern baute, eines seiner ersten Projekte.

Zeitkapsel der Popkultur

Es muss damals ein Alien gewesen sein. Eine Reihe knallgelber Stahlträger, die Seitenwände eines Space-Moduls mit Türen aus dem Fahrzeugbau, dazwischen viel Raum, viel Farbe, und komplett verglaste Fronten zur Straße und zum Garten. Genau die verglaste Front, vor der sich meine Schuh-Fuchs-Konfrontation zutrug, damals im Frühjahr 2017. Drei Monate Stipendium in einer wundersamen Wohnmaschine, einer Zeitkapsel des Jahrzehnts von Popkultur und Zukunftsoptimismus.

Ein Haus, das auch nach über 50 Jahren frisch, frech und provokant inmitten der suburbanen Gediegenheit steht. Der Hügel, auf dem Wimbledon Village liegt, ist nicht nur ein topografischer. Hier wohnen die, die es nach oben geschafft haben oder die nie unten waren. Das galt damals wie heute. Bentleys parken vor Bioläden, es gibt Verkehrsinseln für Pferde, und vor den Cafés lassen sich auch am Wochentag die, die ihr Geld arbeiten lassen, die Sonne auf den Milchschaum scheinen. Währenddessen grassieren unten Wohnungskrise und Obdachlosigkeit – die Themen meiner Stipendiatenforschung. Lebt man drei Monate in dieser schizophrenen Balance, wird die obszöne soziale Ungleichheit dieser Stadt handfest spürbar.

Haus als Möbel

Man wunderte sich nicht, dass Prince Charles, der das schlammig-schweigsame Gummistiefel-England verkörperte und dem alles Südländische und Großstädtische immer fremd war, Rogers später zu seinem Erzfeind erkor, dem er mehrere Projekte dank royaler Intervention abschoss. Rogers, geboren in Florenz, war immer im Herzen ein Kontinentaleuropäer. Als er 1939 mit seinen liberal-kunstsinnigen Eltern ins ländliche Surrey zog, war dies für den Sechsjährigen, wie er später schrieb, „als sei das Leben von Farbe auf Schwarz-Weiß gewechselt“. Sein ganzes Leben und Schaffen ab diesem Zeitpunkt sollten darauf abzielen, dieses Trauma zu korrigieren und mediterranes Licht und Farbe ins graue Porridge-England zu bringen.

Was war beeindruckender in diesem Haus – die Farbe oder der Raum? Sie waren nicht zu trennen. Die Farbe war hier nicht, wie so oft in der Architektur, eine nachträgliche Behübschung, sondern von vornherein Teil des Ganzen. Schiebetüren und Schränke in Orange und Grün. Die gelbe, zehn Meter lange Küchenzeile, mit der man eine stattliche Party versorgen konnte. Was man landläufig „Zimmer“ nennt, gab es nicht, alles war potenziell offen. Gleichzeitig war das Haus selbst ein Möbel, eine Barockkommode in Pop-Farben, mit zahllosen Türen und Schubladen. Es dauerte Tage, bis sie alle erkundet waren, manchmal entdeckte man einen Schrank, manchmal ein ganzes Badezimmer darin.

Drei Monate Leben in einem Glashaus, das verändert das eigene Verhalten. Man wird plötzlich viel ordentlicher und disziplinierter. Die Bettdecke wird schon am Vormittag ordentlich glattgestrichen, und man beginnt zum ersten Mal im Leben, farbig abgestimmte Obstschalen im exakten Abstand „schön“ zu arrangieren. Wohnen im Schaufenster wird automatisch zur Performance. Sind draußen die Bauarbeiter dabei, letzte Hand an die Sanierung des denkmalgeschützten Hauses zu legen, bemüht man sich bei der Forschungstätigkeit im Inneren, mit ostentativ konzentriertem „Ich arbeite übrigens auch“-Gesichtsausdruck in den Bildschirm zu schauen. Man wohnt innen und außen zugleich, man wohnt mit dem Garten und dem Wetter, bekommt jede Veränderung der aufblühenden Frühlingsmonate mit, und spät abends sieht man unter den gelben Vinyl-Jalousien einen der drei Füchse vorbeihuschen.

Als Rogers sich selbst die Ehre gab, um sein in neuem Glanz erstrahlendes Frühwerk zu besichtigen, begriff man sofort, dass er Teil des Hauses und das Haus Teil von ihm war. Leuchtend pink und grün gekleidet, tiefe Lachfalten im Gesicht, noch im hohen Alter eine sonnige Freundlichkeit ausstrahlend. Dieses Haus, das hatte er immer betont, war ein Schlüsselwerk, es war das Scharnier zwischen seiner Familiengeschichte und seiner Karriere. Hier hatten drei Rogers-Generationen gelebt und gearbeitet, und die doppelte Box hatte sich weich und wandelbar an alle Änderungen angepasst.

Hightech-Blaupause

Es war, wie Rogers sagte, die Blaupause (ja, okay, Gelbpause) für das mit Renzo Piano entworfene, 1977 eröffnete Centre Pompidou und für das, was noch folgen sollte und bald Hightech-Architektur genannt wurde. Ein nie ganz passender Begriff, denn so hochtechnologisch war das alles nicht und wollte es auch nicht sein, eher handfest zusammengeschraubt und -geschweißt. Wie bei der Kulturmaschine in Paris wird auch im Haus in Wimbledon die Technik nicht als Maschinenästhetik zelebriert, sondern dient als Ermöglicherin eines von aller Massivität befreiten Innenraums. Alles ist Piazza, könnte man mit dem kulturellen Italiener und leidenschaftlichen Urbanisten Rogers sagen. Man ist nicht Bewohner, sondern Bürger eines Hauses.

Das Centre Pompidou und das Rogers House haben bis heute nichts von der Kraft ihres Versprechens verloren. Sie erzählen von einem Optimismus, der uns heute unerreichbar scheint. Und das graue London ist, nicht zuletzt dank ihm, heller und freundlicher geworden.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: