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Architektur in der Antarktis: Über und unter dem Eis
Der Standard

Ein Buch widmet sich der 100-jährigen architektonischen Geschichte der Antarktis. Eine Annäherung von Mensch und Natur in einer Welt aus Frost, Sturm und Finsternis

12. Februar 2022 - Maik Novotny
Werner Herzog hat vermutlich mehr gesehen im Leben als die meisten Menschen auf dem Planeten. Aber als sich das 25 Tonnen schwere Trumm in sein Blickfeld schob, dürfte auch der deutsche Filmveteran mit den Augen gerollt haben. „Ivan the Terra Bus“ stand weiß auf rot darauf gepinselt. Ein rührend unbeholfenes Wortspiel, irreführend noch dazu, denn das Gefährt stand nicht auf Erde, sondern auf meterdickem Eis.

Werner Herzog war soeben in der Antarktis gelandet, der rote Terra Bus war sein Shuttle zur größten Siedlung auf dem polaren Kontinent: McMurdo Station, 1258 Einwohner. Von der Architektur des Ortes war Herzog, wie er in seinem Film Encounters at the End of the World (2007) erklärt, etwas enttäuscht. „Ich hatte keine unbe rührte Landschaft erwartet, aber McMurdo sah aus wie eine hässliche Bergarbeiterstadt voller Bagger und Baulärm.“

Der Kontrast zwischen der kristallinen Reinheit des ewigen Eises und dem Chaos aus Containern und Gatsch ist typisch für die Geschichte menschlicher Besiedlung der Südpolarregion. Die Architekturgeschichte der Antarktis ist über ein Jahrhundert alt, dokumentiert wurde sie nie. Bis jetzt. Denn das kürzlich erschienene monumentale Buch Antarctic Resolution tut genau dies, und zwar in biblischer Breite.

Herausgeberin Giulia Foscari, Architektin und Leiterin des Thinktank-Büros Unless, hatte schon 2014 in Elements of Venice ihre Heimatstadt Venedig mit Präzision auseinandergenommen. Nach der lückenlosen Verdichtung menschlichen Kulturschaffens widmete sie sich nun dem weißen Nichts. Dabei liegt die Faszination der Antarktis auf der Hand. Sie ist der einzige Kontinent ohne eingeborene Bevölkerung, sie ist ein grausam schönes monochromes Monstrum, das jede menschliche Behausung verweht, zerdrückt, verschluckt.

Mit Klavier und Projektor

„Während wir versuchen, Wohnstrategien in Extremregionen zu verbessern, stößt die Antarktis alles, was wir auf dem Eis bauen, buchstäblich ab“, schreibt Foscari. Auch die Architekturgeschichte beginnt natürlich mit den Heroen Robert Scott und Roald Amundsen. Die britische Expedition errichtete in Cape Evans eine Art koloniale Holzhütte, in der sie 1911–1913 „in vorzüglichem Komfort“ gentlemanhaft residierte, mit Klavier, Grammofon und Filmprojektor. Die Norweger gingen einen anderen Weg: Ihre Station Framheim wurde ins Eis hineingebaut, technisch klug und effizient. Cape Evans steht heute noch, Framheim ist durch das Ross-Schelfeis auf den Boden des Ozeans gesunken, doch beide Stationen stehen als Prototypen bis heute für Architektur, die sich mit oder gegen die Naturgewalten stellt.

Bestes Beispiel: die mittlerweile sechs Generationen der britischen Halley Station. Die erste von 1956 war eine Holzhütte im Scott’schen Sinne, Halley II (1967) eine zehn Meter im Eis versenkte Stahlkonstruktion, die schon sechs Jahre später wieder aufgegeben wurde. Halley III hielt immerhin zehn Jahre, bis sie vom Eis verschluckt wurde, die zerquetschten Reste der Basis wurden später von der Besatzung eines Forschungsschiffs mitten in einer Eiswand gesichtet: Die Antarktis hatte den Stahl geradezu verdaut. Halley V versuchte, mit höhenjustierbaren Stelzen der Naturgewalt zu entkommen, Halley VI (2012), zweifellos eine der schönsten Stationen, erinnert mit ihren modularen blauen Space-Kapseln an die Zukunftsvisionen von Archigrams Walking Cities der 60er-Jahre.

Leichtbau-Träume

Die USA evozierten 1975 mit der geodäsischen Kuppel der Amundsen Scott South Pole Station Buckminster Fullers Leichtbau-Träume, das deutsche Team aus Bof Architekten und Ramboll-Ingenieuren verlieh 2012 der indischen Station Bharati eine schnittige Hülle, die an einen Sportwagen erinnert, und die Brasilianer Estudio 41 gaben der aerodynamischen Station Comandante Ferraz (2020) die Eleganz einer Bondbösewichtvilla.

Die Herausforderungen sind enorm: Temperaturen bis minus 89 Grad und Windgeschwindigkeiten bis 260 km/h. Baumaterial muss per Schiff und Helikopter angeliefert werden, der Transport ins Inland kann Wochen dauern, gebaut werden nur im antarktischen Sommer. Mangels antarktischer Infrastruktur übernehmen die Städte Kapstadt, Christchurch, Hobart, Punta Arenas und Ushuaia stellvertretende Rollen als „Polar Gateways“.

Auch das Innenleben der Forscherstationen muss sich den Extremen stellen. Schon 1898/99 konstatierte die erste Winterexpedition „Melancholie und Depression“ in den dunklen Monaten. Damals versuchte man, mit Kaminfeuern als Form der Lichttherapie gegenzusteuern, heute kommen Farbpsychologie und Zedernholz zum Einsatz, um der Sinnesverarmung durch das Umfeld zu begegnen.

Bei aller wissenschaftlichen Strenge sorgt das Leben in der Extremsituation für zahlreiche Kuriositäten: Die 1961 eröffnete Kegelbahn der McMurdo Station mit ausgestopften Pinguinen als Kegel, eine einsame sowjetische Lenin-Büste am Südpol der Unzugänglichkeit, die 2008 von der Künstlerin Anne Noble fotografisch festgehaltenen „Piss Poles“: gelbe Fahnen, die die Stellen fürs Urinieren markieren. Oder das argentinische Paar, das 1977, auf dem Höhepunkt der Rivalität mit Chile, in die Antarktis geflogen wurde, um dort das erste Baby des Kontinents zu bekommen. Trotz dieser geopolitischen Statements hat sich die Antarktis ein Stück grenzenloser globaler Utopie bewahrt: Im Antarktis -Vertrag, am 1. Dezember 1959 mitten im Kalten Krieg unterzeichnet, verpflichteten sich die Nationen zur friedlichen Nutzung des Kontinents.

Doch auf globaler Ebene hat sich das Machtverhältnis zwischen vergänglicher menschlicher Intervention und ewigem Eis umgekehrt. 1985 wurde das Ozonloch über der Antarktis entdeckt, 2021 sorgte der Doomsday Glacier für Schlagzeilen, denn der Thwaites-Gletscher, doppelt so groß wie Österreich, zeigt dramatische Auflösungserscheinungen. Sollte das gesamte Eis am Südpol schmelzen, würde der Meeresspiegel um rund 60 Meter steigen, Berlin, Paris und Peking würden sich in die Tiefe verabschieden wie Amundsens Framheim. Hier in der südlichen Unzugänglichkeit zeigt die Erde mehr als anderswo ihre fragile Hülle.

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