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Der Atem der Geschichte
Der Standard

Ievgeniia Gubkina hatte den Architekturführer für ihre Heimatstadt Charkiw druckreif fertig. Dann kam der russische Überfall. Ein Gespräch über Baugeschichte, Krieg und die Architektur als emotionales Material.

16. April 2022 - Maik Novotny
Sie hat Führungen organisiert, Bücher publiziert, dissertiert, mehrere NGOs mitgegründet. Ein Leben für die moderne Architektur der ukrainischen Sowjetmoderne und ihren Erhalt. Dann musste die Architekturhistorikerin Ievgeniia Gubkina vor dem Krieg flüchten. Vorige Woche hielt sie in Wien auf Einladung der Initiative Claiming*Spaces der TU Wien und der IG Architektur einen Vortrag. der STANDARD traf sie zum Gespräch.

Standard: Sie sind vor kurzem aus Ihrer Heimatstadt Charkiw nach Lettland geflüchtet. Wie waren die letzten Wochen für Sie?

Gubkina: Der ukrainische Politiker und Aktivist Juri Gudymenko, der gerade kämpft, sagte: „Der Atem der Geschichte weht jetzt in die Seiten der Bücher.“ Und er hat recht. Es ist ein tragisches Gefühl, wenn man sich im Atem der Geschichte wiederfindet. Ich sagte diesen Satz zu meinen Teenagernichten, mit denen ich flüchtete, und sie verstanden es sofort und sagten: Genau so fühlt es sich an. Wie ein reales Ding, das atmet und das unheimlich und viel zu groß ist.

Standard: Hat Sie der Einmarsch überrascht?

Gubkina: Ich bin dieses Mal nicht in Tränen ausgebrochen, weil ich das schon vor acht Jahren getan habe. Als am 1. März 2014 der russische Föderationsrat die Armee zum Einmarsch in andere Staaten berechtigte, war mir klar, dass das Krieg bedeutet. Meine regimekritischen russischen Freunde sagten damals: Ach was, das sind doch nur Worte! Doch sie vergaßen die Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien. Und sie glaubten die Worte nicht.

Standard: Sie halten dieser Tage Vorträge in Wien, Prag, Brno und Warschau über die Architekturgeschichte der ukrainischen Moderne. In einem langen Instagram-Post reflektierten Sie vorab darüber, warum man über Architektur reden kann, während Menschen umgebracht werden.

Gubkina: Wir denken, dass Kultur in diesen Zeiten nicht wichtig ist. Auch mir selbst ging das zeitweise so. Wenn man die Nachrichten aus Butscha liest, denkt man: Jetzt ist mir Kultur komplett egal. Das ist ein normaler Selbstschutzmechanismus. Aber es ist eine Illusion, dass wir die Wahl haben zwischen Kultur und Überleben, diese Entscheidung gibt es ja in der Realität nicht. Natürlich, eine Vortragsreise hält das Morden nicht auf. Aber wir müssen die Lage reflektieren, wir müssen weiterdenken. Eines Tages wird der Krieg vorbei sein, und worüber reden wir dann? Denn wenn wir dann keine Erklärungen haben für das, was passiert ist, wird es noch schmerzhafter sein.

Standard: In der Berichterstattung über den Krieg spielt Architektur eine Hauptrolle. Wir sehen Vorortvillen in Butscha, Plattenbauten in Mariupol, historistische Fassaden in Kiew. Auf absurde Weise erfahren wir so sehr viel über den Charakter dieser Städte, während dieser Charakter zerstört wird.

Gubkina: Aber in unserem Blick auf die Architekturgeschichte vergessen wir oft, dass all diese Gebäude eng mit dem Fleisch und Blut der Menschen verbunden sind, die in ihnen wohnen. Ihre Zerstörung ist ein Nachweis, dass gemordet wird. Ich habe ein Video gesehen, auf dem Raketen in einen 1970er-Jahre-Wohnblock in Charkiw einschlagen, und das war für mich nicht nur ein Schlag gegen alles, für das ich mich engagiere, sondern auch wie ein Schlag gegen meinen eigenen Körper, ein physischer Schmerz.

Standard: Wie ist die Situation in Charkiw derzeit?

Gubkina: Es ist wie ein Stadtplanungsbüro, in dem der Chef sagt: Heute kümmern wir uns um Krankenhäuser. Aber nicht um das Bauen, sondern um das Zerstören. Es ist Stadtplanung im Rückwärtsgang, es ist Anti-Architektur. Und sie ist systematisch geplant.

Standard: Sie beschäftigen sich besonders mit dem Konstruktivismus der 1920er-Jahre wie dem Derschprom-Komplex in Charkiw. Welche Rolle spielt diese Zeit im Spannungsfeld zwischen russischer und ukrainischer Sowjetarchitektur?

Gubkina: Ich habe dort viele Führungen geleitet, und die Leute wurden immer sehr emotional. Sie haben geweint vor Ergriffenheit! Sie wollten imperiale Architektur sehen, weil sie sich dann als Teil von etwas Großem fühlen konnten. Dann erzählte ich ihnen von der Neuen Ökonomischen Politik der 1920er und der Industrie in der Ukraine. Aber das hat die Zuhörer nicht interessiert. Sie wollten Stalin, sie wollten das Grandiose, und jede zusätzliche Information macht das Grandiose kleiner. Aber kleine Geschichten sind wahrhaftiger, und wenn man genauer hinschaut, sind sie auch gar nicht so klein. Wie bei David und Goliath. Die Davids sind viel interessanter als die Goliaths!

Standard: Sie hatten Ihren Charkiw-Architekturführer gerade fertiggestellt, als der Krieg begann. Was passiert jetzt mit dem Buch?

Gubkin: Das Buch hat eine lange Geschichte. Geplant war es seit acht Jahren, aber zuerst schrieb ich andere Bücher, und mein Charkiw-Buch wartete im Hintergrund. Im Dezember 2021 beschloss ich, es endlich fertigzustellen. Dann kam der Krieg. Etwa die Hälfte der Gebäude im Buch ist heute zerstört oder beschädigt. Jetzt haben der Verlag und ich beschlossen, dass die Realität des Krieges unbedingt in dieses Buch hineinmuss. Die SMS-Nachrichten von Freunden aus den ersten Tagen des Krieges. Die Geschichten von Menschen, die in diesen Gebäuden starben. Ich nenne es „emotionales Material“, und das gehört auch in solche Bücher.

Standard: Manche Ihrer Freunde sind in Charkiw geblieben. Pavel Dorogoy, der für Ihr Buch die Gebäude fotografiert hat, und die Konservatorin Kateryna Kublytska dokumentieren jetzt die Zerstörung der historischen Bausubstanz.

Gubkin: Auf der Flucht nach Lettland hatte ich das Gefühl, meine Handlungsmacht zu verlieren. Ich war das passive Objekt der Hilfe anderer Leute. Mir wurde klar, dass das mit Würde zu tun hat. Würde heißt, eine Wahl zu haben. Meine Freunde haben die sehr schwere Wahl getroffen, Helden zu sein. Helden des Denkmalschutzes, Helden der Architektur in einer Zeit der atmenden Geschichte.

Standard: Was ist Ihre Rolle? Was kann man aus der Distanz, aus dem Exil für Charkiw tun?

Gubikin: Für den konkreten Schutz der Gebäude kann ich nichts tun. Das war schwer zu akzeptieren. Muss ich alle verschwundenen Bauten zählen? Ich weiß nicht. Muss ich sie dokumentieren? Vielleicht. Aber vor allem sollte ich versuchen, zu begreifen, was passiert. Mit mir, mit der Ukraine, mit der Gesellschaft, mit der Architektur. Ich bin nicht dort. Ich bin keine Heldin. Ich denke nur nach. Das ist vielleicht kein großartiger Job während eines Krieges, aber jemand muss es tun. Irgendwer muss nachdenken.

Ievgeniia Gubkina ist Architektin, Architekturhistorikerin und Kuratorin aus Charkiw. 2015 erschien ihr Architekturführer zu Slavutych, 2019 „Soviet Modernism. Brutalism. Post-Modernism“. 2020 kuratierte sie das Onlineprojekt Ukrarchipedia.

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