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Die Utopie wohnt in Simmering
Spectrum

Wenn der Sozialbau auslässt, tun sich Privatpersonen zusammen, um einen Lebensentwurf umzusetzen: In Wien-Simmering entsteht gerade ein Projekt, das nicht nur leistbares Wohnen bietet, sondern auch Platz für ein Trainingszentrum, Werkstätten und eine Töpferei

15. Juli 2022 - Isabella Marboe
Die Simmeringer Peripherie ist für die meisten ein weitgehend unbekannter Kontinent. Zwischen Zentralfriedhof und Alberner Hafen spannt sich ein disperses, ruppiges Stück Stadt auf. Im weitmaschigen urbanen Gewebe aus sozialem Wohnbau, Gewerbe, Industrie, Transport, Kleingärten, Landwirtschaft, Glashäusern und Dorfrelikten finden sich noch Nischen, die in kein gängiges Immobilienportfolio passen. Die Rappachgasse besteht aus einer oberen Haupt- und einer unteren Nebenfahrbahn auf abgesenktem Niveau. Dort wird auf einem etwa 3300 Quadratmeter großen Grundstück ein utopischer Lebensentwurf gerade Wirklichkeit. „Schlor – Schöner Leben ohne Rendite“ nennt sich die Gruppe von derzeit 15 Menschen, die hier gemeinsam ein beachtliches Projekt umsetzt.

Begonnen hatte alles mit einer großen Wohngemeinschaft, die als letzte Partei einen unbefristeten Mietvertrag in einem Altbau im siebten Bezirk hatte. Das Haus stand vor einer Renovierung, die Gruppe nahm die Abschlagszahlung des Eigentümers an, zog aus und machte sich auf die Suche nach einem Objekt in Gürtelnähe, um dort gemeinschaftlich zu wohnen. Immer deutlicher zeigte sich, dass ihr Startkapital für den Kauf einer Immobilie bei Weitem nicht reichte. Die Ersten sprangen ab, Neue stießen dazu, die Gruppe erfuhr vom „Habitat“. Sie beschloss, Teil dieses Netzwerks zu werden, das 2014 nach deutschem Vorbild in Österreich gegründet wurde.

Dort gibt es das Mietshäuser-Syndikat schon seit den 1980er-Jahren: Eine Gruppe erwirbt eine Immobilie und zahlt mit den Mieteinnahmen die Kredite zurück. Das Haus wird nie veräußert, es bleibt im Besitz der Gruppe und des Syndikats. „Im Gegensatz zu Genossenschaften braucht man im Habitat keine Eigenmittel“, erklärt Rainer Hackauf, Mitinitiator von Schlor und Mann für die Öffentlichkeitsarbeit. Im Schnitt führt er monatlich drei Interessierte durch das Areal, Architekten, Soziologen, Philosophen, Ökonomen. „Wir wollen zeigen, dass man die Dinge anders machen, selbstverwaltet bauen, solidarisch ökonomisch wirtschaften und leistbaren Wohnraum schaffen kann, der niederschwellig zugänglich ist.“

Zwei Jahre auf Grundstückssuche

Im Habitat ist jede:r Mieter:in, die Bauten und der Grund gehören der Schlor GmbH, deren Gesellschafter zu 49 Prozent die Wohngemeinschaft und zu 51 Prozent das Habitat sind. Sobald ein Haus abbezahlt ist, fließen Teile der Einnahmen in das Netzwerk, das Habitat-Projekte ermöglicht, Immobilien zu erwerben, und diese so dem Markt entzieht. Auch als Anlageform ist das Modell interessant: Unterstützer zahlen einen Direktkredit zwischen 500 und 50.000 Euro zu einem Zinssatz von bis zu 1,5 Prozent ein. 280 Menschen haben das bei Schlor getan und so 45 Prozent der Bausumme von 4,7 Mio. Euro finanziert. Hierzulande gibt es sieben Habitat-Projekte. Das Linzer Altstadthaus „Willy Fred“ war 2015 der Pionier, neben Wohnungen gibt es dort Kulturvereine und einen „Kost-nix-Laden“. In Wien ist das ökologische Passivhaus „Bikes and Rails“ von Architekt Georg Reinberg das erste. Nun Schlor: „Es ist bei Weitem das komplexeste Habitat-Projekt“, sagt Architektin Gabu Heindl. Zwei Jahre suchte die Gruppe ein Grundstück, nichts war leistbar; dann fand sich das abgesenkte Zirkusareal in der Rappachgasse. Die Chemie zum Vorbesitzer stimmte, ein Großteil der Gruppe verliebte sich sofort in den Ort, der Charme und einen Hauch von Anarchie verströmt.

Im Westen die Zufahrtsstraße, im Norden die Stallungen des „Fiaker Paul“, im Süden das Kfz-Service Trimmel. Im Osten eine steile, dicht bewaldete Böschung zum Bahndamm der ÖBB. Auf dem Grundstück: die 500 Quadratmeter große Trainingshalle von TRAP (Trainingszentrum Rappachgasse) – vormals der „Phoenix Fire Dancers“, die von einem eindrucksvollen Träger stützenfrei überspannt wird. Drei Tonnen können ihre Aufhängepunkte tragen, das schafft kaum eine andere Halle, viele Artist:innen trainieren hier. Die Halle wird L-förmig von Büros und Lagerräumen gerahmt, an der westlichen und nördlichen Grundgrenze gibt es zwei weitere Trakte. Das Grundstück ist als Gemischtes-Baugebiet-Geschäftsviertel gewidmet, die Gruppe wusste nicht, ob man dort überhaupt wohnen konnte. Sie wandte sich an Gabu Heindl Architektur. Das Büro zeigt ein vertieftes Interesse an Alternativen zum privaten Wohnbau. „Diese Gruppe wollte nicht nur ein Gemeinschafts-, sie wollte auch ein Habitatsprojekt umsetzen“, sagt Heindl. „Für mich ist das eine sehr schöne Aufgabe, man unterstützt damit eine gute Entwicklung.“ Das bedingt auch ein anderes Rollenverständnis. „Ich begleite die Gruppen, schaue mir den Bestand an, evaluiere das Grundstück und überlege mir einen Nutzungsmix.“

Grasbausteine statt Asphalt

Diesmal gab es viel Neuland: Gewerbegebiet, Wohnen und Arbeiten, Bauen mit Bestand, Habitat, selbstverwaltetes, gemeinnütziges Unternehmertum. Laut Gesetz zählen zu jedem Gewerbebetrieb zwei Wohnungen – für die Betriebsleitung und -aufsicht –, summa summarum gibt es hier nun ein Drittel Wohnen, zwei Drittel Gewerbe.

Die Prämissen beim Bau waren klar: so viel nutzen wie möglich, so viel erneuern wie nötig, ökologische Materialien, soweit ökonomisch sinnvoll, Fotovoltaik auf dem Dach, um drei Viertel des Strombedarfs zu decken. Künftig sollen die Asphaltflächen mit Grasbausteinen entsiegelt werden. Der Trakt im Osten war nicht mehr zu retten, Ende 2019 wurde er abgerissen. Hier ist gerade ein Holz-Stroh-Lehm-Bau im Entstehen: das Haus mit den Betriebswohnungen. Vom Trakt im Westen blieb das Erdgeschoß erhalten, eine Stahlbetondecke stabilisiert die Statik; darauf wurde ein Holzbau aufgestockt, der mit Zellulose gedämmt und innen mit Lehm verputzt ist.

Dieser Teil des Projekts (CRAP – Creativcluster Rappachgasse) ist so gut wie fertig, rund um die Halle entstehen noch Veranstaltungsräume. Im Atelier am Eck wohnt Gesa Pielok mit zwei anderen – die lehmverputzten Räume sind hell, freundlich und kühl. „Den Innenausbau haben wir selbst gemacht.“ Gesa war in der Baugruppe, am Laubengang vor Ateliers und Werkstätten stehen Tische und Pflanzen und sitzen Bewohner:innen. Im Erdgeschoß gibt es einen Proberaum, eine Holz- und Metallwerkstatt, Platz für Fahrradreparatur, darüber eine Töpferei. Die Zirkushalle wird als TRAP bestehen bleiben, auf dem Parkplatz dahinter kann man das Leben im Wohnwagen austesten. Die Halle muss saniert werden; de facto bleiben nur Boden und Sockel, darüber Holz statt Blech. Ihre Finanzierung ist die nächste Herausforderung, die Chancen auf Förderungen stehen gut: Kulturelle Angebote sind rar in Simmering, der Bezirk freut sich über Schlor. Die Stadtlage ist weit besser, als man denkt: Wirklich alle fahren hier mit ihren Fahrrädern.

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Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

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