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Die Verchipperfieldisierung Berlins
Der Standard

Im August begeben wir uns auf eine Reise durch Europa. Teil eins: Berlin, das in den letzten Jahren durch einen Architekten besonders stark geprägt wurde. Aber was macht David Chipperfield so deutsch? Und warum fügt sich seine Handschrift so gut in diese Stadt?

6. August 2022 - Wojciech Czaja
Über ihr ein alter, verrosteter Kran, an schweren Ketten von der Decke hängend, daneben eine ganze Batterie an Schläuchen und Spritzdüsen, die ehemalige Glasreinigungsanlage. „Sehen Sie die alten Mörtelfugen? Die gusseisernen Säulen? Die vielen Spuren von Fenstern, Gewölbedecken und Mauerdurchbrüchen, die man im Putz noch so wunderbar erkennen kann?“ Annette Hähn deutet durch die Glastür in die Halle. Die Zufriedenheit mit ihrem Arbeitsplatz ist ihr ins Gesicht geschrieben. „David Chipperfield hat schon das Neue Museum auf der Museumsinsel gebaut und die Neue Nationalgalerie saniert, und jetzt arbeiten auch wir in einem Chipperfield-Bau. Schon toll, oder?“

Nach der Wende stand die in den 1880er-Jahren errichtete Bötzow-Brauerei am Prenzlauer Berg, nur wenige Gehminuten vom Alexanderplatz entfernt, lange Zeit leer, ehe sie mehrere Male den Besitzer wechselte und schließlich 2010 in den Händen von Hans Georg Näder, Eigentümer der Ottobock SE, landete. Das niedersächsische Unternehmen ist auf die Herstellung von Prothesen, Orthesen, Exoskeletten und High-End-Rollstühlen spezialisiert – und hat beschlossen, das denkmalgeschützte Areal zu sanieren und sich hier mit Teilen der Verwaltung und einer Forschungsabteilung für Rollstühle anzusiedeln.

„Wir sind ein traditionsreiches Unternehmen, das seit über hundert Jahren besteht und sich seit seiner Gründung durch technische Innovation auszeichnet“, sagt Hähn, Assistentin am Berliner Standort von Ottobock, während sie den Journalisten durch die sanierte Brauerei begleitet und ihn auf eine kleine materialkundliche Entdeckungsreise entführt. Überall Stahl, Glas, nackter Beton, grober Reibputz an den Wänden, ockerfarbene, eigens für dieses Projekt gebrannte Ziegelklinker an der Fassade. „Auch in unsere Produkte kann man hineinblicken, ihnen die Funktionsweise ansehen und verstehen, wie sie beschaffen sind und welchen Zweck sie erfüllen. So gesehen, denke ich, passt die Architektur gut zu uns.“

In den kommen Jahren – die Grundplatten werden bereits betoniert – werden auf der noch unbebauten Freifläche, Prenzlauer Allee 242, drei Neubauten für Wohnen und Arbeiten errichtet, eingebettet in einen grünen Campus, geplante Fertigstellung Ende 2024. Damit ist die Bötzow-Brauerei – nach einem gefühlten Dutzend stadtprägender, gestaltgebender Chipperfield-Bauten in ganz Berlin – ein weiteres Riesenprojekt aus der Feder des britischen Neoklassizisten, der seit fast 25 Jahren ein Schwesternbüro in der deutschen Bundeshauptstadt betreibt. Mittlerweile ist die Berliner Dependance mit 140 Mitarbeitern phasenweise sogar größer als das Mutterbüro in London.

Der einzige Stararchitekt?

Gegründet wurde das Berliner Büro 1998 anlässlich des gewonnenen Architekturwettbewerbs für die Sanierung des Neuen Museums. In der Zwischenzeit wurden von hier aus bereits einige Hundert Projektplanungen in ganz Europa begleitet und betreut, ein Teil davon in und für Berlin – neben dem Neuen Museum beispielsweise die James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel, die Galerie am Kupfergraben, das Gropius-Ensemble, der Umbau des Ullstein-Verlags in der Friedrichstraße, der eigene Bürocampus in der Oranienburger Vorstadt oder zuletzt die Generalsanierung der Neuen Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe.

„Er baut viel in Berlin, ist oft in der Zeitung und im TV zu sehen“, sagt Annette Hähn. „Ich habe sogar das Gefühl, dass Chipperfield unter den Berliner Architekten der prominenteste ist, derjenige, der auch in der breiten Bevölkerung am häufigsten in Erscheinung tritt. Mich freut seine Präsenz insofern, als ich ihn, soweit ich das als Nichtarchitektin überhaupt beurteilen kann, für einen sehr sensiblen Architekten halte. Er eckt nicht an, er provoziert nicht, er ist einfach nur bestrebt, Schönheit zu erschaffen.“

In Fachkreisen ist immer wieder das spitze Bonmot zu hören, dass Chipperfield, obwohl in London zu Hause und im Besitz eines britischen Reisepasses, der berühmteste, wenn nicht sogar einzige Stararchitekt Deutschlands sei – bekannter, schillernder und einzigartiger im Auftreten als ein Gunter Henn, ein Werner Sobek, ein Meinhard von Gerkan. Aber was macht ihn so deutsch? Warum fügt sich seine Handschrift so gut in diese Stadt?

Unkompromittierte Häuser

„Die Arbeit am Neuen Museum war mit Sicherheit ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer eigenen Architekturhaltung des Berliner Büros“, sagt Alexander Schwarz, Partner bei David Chipperfield Architects und Leiter der deutschen Niederlassung. „Am Neuen Museum lässt sich beispielhaft ablesen, wie Berlin beschaffen ist. Es ist gebrochen, fragmentarisch, im stetigen Wandel, in einer bis heute noch immer nicht abgeschlossenen Transformation befindlich. Dieser Umgang mit Leerstellen, diese Sehnsucht nach dem Weiterschreiben der Stadt ist ohne Zweifel ein Motor unseres Schaffens. Das passt gut zu Berlin.“

Oft finden sich dort Ziegel, roher Beton und sandfarbener Stein. Häufiger zumindest als bei den Projekten in München, London, New York, Ottawa oder Shanghai. Auch in Wien befindet sich das dritte Chipperfield-Projekt – nach dem Peek-&-Cloppenburg-Gebäude auf der Kärntner Straße und einem Hotel in Margareten – in Bau. Es handelt sich um Luxusvillen in Hietzing.

„Nein, wir wollen keine Bildebene bedienen, und wir betreiben auch keine metaphorische Architektur“, meint Schwarz. „Was wir machen, ist hochwertiges, langlebiges Bauen, das sich gut ins Umfeld fügt. Das ist selten laut und meistens zeitlos elegant. Und als Reaktion auf den Charakter dieser Stadt ist unsere Architektursprache in Berlin wahrscheinlich klassischer und klassizistischer als anderswo.“

Die nächsten Projekte sind bereits in Bau, darunter etwa der Jannowitz-Tower an der Jannowitzbrücke in Berlin-Mitte, eine 75 Meter hohe Landmark direkt an der Spree. In der Berliner Öffentlichkeit ist das Projekt bereits weitgehend bekannt. Über weitere Bauvorhaben, die sich bereits in der Pipeline befinden, wird vorerst noch nicht gesprochen. Paris hatte seinen Baron Haussmann, Ljubljana seinen Plečnik, Barcelona seinen Gaudí. Sind wir nun Zeugen einer Berliner Verchipperfieldisierung?

„Das halte ich für übertrieben“, meint Alexander Schwarz. „Doch Fakt ist: Es ist schwierig, in Deutschland herausragende Bauten hinzustellen, denn die Gesetzeslage und Mentalität führt zwar zu einer Kultur der hohen Nivellierung – allerdings mit wenig Luft nach oben für Extravagantes. Dass es ausgerechnet uns gelungen ist, hier so viele unkompromittierte Häuser zu realisieren, steht für das radikale Understatement unserer Herangehensweise.“ Wie Berlin wohl in den kommenden 25 Jahren Gestalt annehmen wird? Abwarten und Tee trinken.

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