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Eine andere Sicht auf die Dinge
Der Standard

Am Donnerstag wurde in Wien der Anotherviewture Award verliehen. Der Preis honoriert die Leistungen und Initiativen von Architektinnen und Ziviltechnikerinnen. Dahinter steckt eine unglaubliche Power.

22. Oktober 2022 - Wojciech Czaja
Im Sommer, sagt sie, wurde hier ein Kinderbuch präsentiert. Kurz darauf hat der Kosmetikhersteller Maybelline New York mit Freiheitsstatuen aus Pappkarton seine neue Produktlinie Winter 2022 vorgestellt. Und erst kürzlich hat sich ein privates Unternehmen eingemietet, um mit seinen Kundinnen und Kunden auf die kommende Saison anzustoßen – mitsamt Showeinlage von Dragqueens und Akrobaten.

„Dieser Raum ist für alle“, sagt Sabina Grincevičiūtė. „Wir wollen diesen schönen, exotischen Ort bekannt machen und dafür sorgen, dass dieses bislang unsichtbare Eck von Vilnius, das die Leute meist nur mit Lagerhallen und Heizkraftwerk assoziieren, endlich auf der Mental Map landet, denn eigentlich ist es hier wirklich großartig.“

Grincevičiūtė, 35 Jahre alt, ist Partnerin im litauischen Büro Do Architects. Gemeinsam mit Algimantas Neniškis und ihren beiden Kolleginnen Andrė Baldišiūtė und Gilma Teodora Gylytė leitet sie ein Team mit knapp 60 Leuten – und zählt damit zu den drei größten Architekturbüros des Landes. Die Projekte umfassen sämtliche Bautypologien von Wohn-, Büro- und Bildungsbau über Quartiersentwicklungen und urbane Refurbishments bis hin zu rein kommerziellen Corporate-Projekten, mit deren lukrativen Planungshonoraren diverse Pro-bono-Projekte für NGOs und karitative Zwecke finanziert werden.

„Wir sind ein junger Haufen aus Architektinnen, Landschaftsarchitekten, Designern, Interior-Spezialisten, Projektmanagern, Soziologinnen und Rechtsexpertinnen, und in den neun Jahren seit unserer Gründung ist es uns gelungen, uns nicht nur als ein Büro unter zu drei Vierteln weiblicher Führung zu etablieren, sondern uns auch zu den wichtigsten Aktivistinnen im Stadt- und Kulturbereich zu entwickeln. Das ist eine unglaubliche Power, die wir nutzen wollen. Wir können was bewegen!“

Und Do Architects meinen es mit ihrem programmatischen Büronamen wirklich ernst: In regelmäßigen Abständen veranstalten sie im öffentlichen Raum und in irgendwelchen Innenhöfen Feste, Picknicks und Bauernmärkte. Sie nehmen Kontakt zu Fonds, Rechtsanwälten und Immobilienentwicklern auf und halten Workshops zum Thema Architektur und Stadtkultur ab – denn: „Wir müssen die Macherinnen und Macher in der Immobilienbranche dringend sensibilisieren – dahingehend, dass sie nicht nur Grundstücke verwerten, sondern die Stadt weiterbauen und damit eine große kulturelle und gesellschaftliche Verantwortung tragen.“

Und als wäre das alles nicht genug, hat sich das Büro bei seiner Gründung 2013 vorgenommen, alle drei Jahre zu übersiedeln und jeweils ein neues Stadtentwicklungsgebiet in Angriff zu nehmen oder eine vergessene, verwaiste Stadtbrache mit seiner Präsenz wachzuküssen. Die letzte Übersiedlung führte sie nach Vilkpėdė, rund fünf Kilometer außerhalb der Altstadt.

„Seit ein paar Monaten sind wir nun an unserem insgesamt vierten Standort“, sagt Grincevičiūtė, „und zwar in einer ehemaligen Betonfabrik im Südwesten der Stadt. Nachdem die Produktion aufgelassen wurde, war es hier still und leer. Wir waren die Ersten vor Ort, haben bereits einige Kreative anlocken können und betreiben auch einen Veranstaltungsraum, den wir zu diversen Zwecken an Externe weitervermieten.“ Mittlerweile ist Betono Fabrikas ein stadtbekannter Hotspot in der Kulturszene.

Unterrepräsentierte Frauen

Für ihre außergewöhnlichen Leistungen wurde Sabina Grincevičiūtė am Donnerstag in der Akademie der bildenden Künste Wien mit dem verbal-phonetischen nicht ganz einfachen Anotherviewture Award ausgezeichnet. Das bissl verkopfte Kofferwort birgt das englische „her view“ im Namen und hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die weibliche Perspektive auf das Bauen anschaulich zu machen, sondern auch planerisch beeindruckende Leistungen von Architektinnen, Stadtplanerinnen und Ziviltechnikerinnen vor den Vorhang zu holen.

„Es gibt tolle Frauen, die im Bereich des Planens und Bauens viel bewegen, aber in vielen Ländern ist der Anteil weiblicher Architekturschaffenden in den Medien und in der Berufspraxis immer noch massiv unterrepräsentiert“, sagt Bettina Dreier, Architektin in Graz und innerhalb der Länder- und Bundeskammer Arch+Ing Vorsitzende des Ausschusses der Ziviltechnikerinnen – mit kleinem „i“, wie sie betont, denn dieser Ausschuss widmet sich ausschließlich den Anliegen und der Sichtbarmachung der Frauen.

Vor einigen Jahren startete Dreier mit ihrem Kolleginnenteam eine Initiative unter dem Titel Yes We Plan!. In Kooperation mit Deutschland, Frankreich, Spanien und Slowenien wurde die aktuelle Situation von Architektinnen und Ziviltechnikerinnen analysiert – mit einem erschreckenden Ergebnis: 52 Prozent aller Architektur- und Bauingenieur-Absolventen in Österreich sind weiblich (Stand 2019). Unter den insgesamt 5741 beeideten Architekturschaffenden jedoch beträgt der Frauenanteil dann nur noch 15,2 Prozent. Damit ist Österreich hinter Frankreich (28,6 %), Spanien (31,5 %), Deutschland (33,1 %) und Slowenien (45,2 %) trauriges Schlusslicht.

Ein ganzes Bündel an nationalen und internationalen Maßnahmen soll nun dafür sorgen, dass sich die Situation bessert: Ausstellungen, Publikationen, Symposien und nicht zuletzt der erstmals verliehene Anotherviewture Award, der in Anlehnung an den französischen, schon längst etablierten Prix des Femmes Architectes von der Arch+Ing-Kammer ins Leben gerufen wurde. Zu den österreichischen Preisträgerinnen, die sich ebenfalls über 5000 Euro Preisgeld freuen dürfen, zählen Barbara Poberschnigg, Catharina Maul und Carla Lo. Der ΔTANDARD gratuliert – und hofft, dass dieser Preis eines Tages absurd erscheinen wird.

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