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SOS Gründerzeit
Der Standard

Teil 1 Immer mehr Gründerzeithäuser werden abgerissen. Mit der zunehmenden Zerstörungswut verändert sich auch das Stadtbild. Was heißt das für Wien? Fünf Protokolle.

21. Januar 2023 - Wojciech Czaja
Gründerzeit? Eine endliche Ressource!

„Die Wiener Gründerzeit ist image- und stadtbildprägend. Mit diesen Bildern sind wir alle aufgewachsen. Mit dem Weiterwachsen der Stadt und mit dem zunehmenden Verwertungsdruck der Immobilienwirtschaft jedoch wird uns allmählich klar, dass die gründerzeitliche Substanz eine endliche Ressource ist.

Der Abbruch eines nicht denkmalgeschützten Hauses und das Füllen einer solchen Baulücke mit einem modernen Wohnbau, der den heutigen Bedürfnissen und der Nachfrage am Markt entspricht, ist im Einzelfall absolut legitim. In der Summe aber müssen wir anerkennen, dass uns ein Stück der Wiener Identität, die auch im Tourismus eine große Rolle spielt, zu verschwinden droht.

Was tun? Mein Begehr ist ein gutes Nebeneinander aus Alt und Neu. Dazu muss man die baukulturelle Qualität im Neubau nach oben heben. In den meisten Fällen lässt diese nämlich zu wünschen übrig. Auch in der Gründerzeit war nicht alles eitel Wonne – mit dem Unterschied allerdings, dass es ein Bewusstsein für Ensembles, für Stadtbilder und für eine gesamtstädtische Verantwortung gab.“

Peter Payer ist Stadtforscher und Stadthistoriker in Wien.

Ästhetik hat im Neubau keinen Stellenwert

„Nicht nur in Wien, auch in anderen Städten bin ich viel unterwegs und beobachte, wie sich die gebaute Stadt verändert. An vielen Orten gelingt es, den Neubau in die historische Stadt so einzuweben, dass zwischen Alt und Neu eine gewisse Balance entsteht. Man nimmt Rücksicht auf Farbe, Material, Geschoßhöhe und Fensterproportionen.

In Wien hat Ästhetik im Neubau keinen Stellenwert. Entweder haben Architekten ein ästhetisches Empfinden, das nicht der breiten Masse entspricht, oder aber die Bauherren, Investorinnen und Wohnbauträger weigern sich, Geld in eine ansprechend gestaltete und im menschlichen Maßstab gegliederte Fassade zu investieren. Natürlich, der gründerzeitliche Stuck war meist vorgefertigt, hört man immer wieder als Kritik, die reinste Katalogware. Na und? Die heutigen Häuser bestehen auch aus vorgefertigten Elementen. Wo ist da der Unterschied?

Das neue Wien fühlt sich an, als würden Laien, Architektinnen und Bauherren in unterschiedlichen Welten leben. Ich wünsche mir mehr Schönheit an den Fassaden und gestalterische Mindeststandards, die ein Wohnhaus im gründerzeitlichen Wien erfüllen muss. Die Stahlbetonkisten mit ihren Vollwärmeverbundsystemen machen die Stadt kaputt.“

Georg Scherer betreibt seit 2018 den Blog wienschauen.at.

2,50 Meter hohe Erdgeschoße sind ein No-Go

„Nicht jedes Haus, das in der Gründerzeit erbaut wurde, ist auch wirklich schützenswert. In Summe aber bietet die gründerzeitliche Bausubstanz Qualitäten, die der gewerbliche Wohnbau der jüngeren Zeit leider nicht mitbringt. Das merkt man auch im Stadtparterre der historischen Bestandsstadt: Früher gab es im Erdgeschoß in den sogenannten G’wölben ein reges Leben mit Handel, Gastronomie und produzierendem Gewerbe.

Das ist heute anders. Die meisten Neubauten bestehen im Erdgeschoß aus Haustor, Garageneinfahrt und Zugang zum Müllraum. Dazwischen parken hunderttausende Autos. Damit ist das Erdgeschoß vielerorts monoton und unbelebt. Die wenigen Erdgeschoßlokale, die man findet, stehen entweder leer oder werden als gewerbliche Storage-Räume genutzt, was aber auch nicht unbedingt zu einer Belebung des Erdgeschoßes beiträgt.

In den 1990er-Jahren haben sich viele Kreative und Architekturbüros im Erdgeschoß eingemietet. Heute findet man immer häufiger Arztpraxen und Zahnärztinnen. Die Möglichkeiten müssen dringend ausgeweitet werden! Denn das Erdgeschoß ist eine Raumressource für künftige Nutzungen, die wir uns heute vielleicht nicht einmal noch vorstellen können. Das heißt: 2,50 Meter Raumhöhe im EG ist ein No-Go.“

Angelika Psenner ist Professorin für Stadtstrukturforschung an der TU Wien.

Auf der Suche nach der gemeinsamen Sprache

„Um Klartext zu sprechen: Nicht nur die heutigen Baulückenhäuser, auch viele Gründerzeithäuser waren gewerblich errichtet, gewinnorientiert, bodenausnutzend, dichte Burgen mit geringem Lebenskomfort. Kein Unterschied also zum heutigen neoliberalen Neubau.

Mit einem Unterschied aber: Damals gab es so etwas wie eine gemeinsame Sprache, die innerhalb der Regeln Variationen zuließ. Der Charakter einer Straße wurde durch den Takt rhythmisiert: Baulinie, Putzfarben, Fenstergiebel, Kordongesimse. Damit blieb das einzelne Haus – trotz seiner individuellen Züge – stets in ein verbindliches Stadtbild eingebunden.

Heute gewinnt man manchmal den Eindruck, als hätten die Häuser mit ihren Nachbarbauten und der Straße, in der sie stehen, nichts zu tun. Zwar ist in der heutigen Bauordnung immer noch vom „Stadtbild“ die Rede, aber die Verbindlichkeit eines solchen Bildes ist Geschichte. Dem gewinnorientierten, gewerblich errichteten Neubau, der steif dasteht und sich auf seine vielleicht schillernde Fassade verlässt, fehlen diese Qualitäten.

Ich wünsche mir mehr Wandlungsfähigkeit, mehr kleinmaßstäbliche Nutzungsvielfalt und mehr Augenmerk auf den Kontext – ohne Heraufbeschwören alter Zeiten, die auch damals nicht rosig waren.“

Gabriele Kaiser ist Architekturhistorikerin in Wien und Linz.

Eine schöne Fassade ist kein Verbrechen

„Wir rechnen heute mit einem Lebenszyklus von 50 Jahren. Die gründerzeitlichen Häuser haben schon 120 Jahre auf dem Buckel, wären nach heutigen wirtschaftlichen Gesichtspunkten also schon doppelt abgeschrieben, stehen aber immer noch da. Den Gebäuden scheint eine Qualität innezuwohnen, die sie überlebensfähig macht. Mit diesem historischen Kapital zu arbeiten und die Stadt in ihrem Charakter weiterzubauen ist unser aller Verantwortung, denn die Qualität der gründerzeitlichen Stadt ist, sobald sie einmal zerstört ist, unwiederbringlich verloren.

Egal, ob wir bei Hild und K neu bauen oder sanieren: Wir verstehen unsere Arbeit als Bauen im Bestand, denn im städtischen Kontext ist man immer von Bestand umgeben. Wir kennen, wenn es um Schönheit an der Fassade geht, keine Tabus. Wir arbeiten gerne mit Humor, mit Zitaten, mit Ornamenten, mit der Freiheit der Transformation. Zudem sind manche Qualitäten – wie etwa eine lebendige Erdgeschoßzone und eine ästhetische und hochwertige Fassade – unverzichtbar.

Abbrüche und Neubauten, die einzig und allein ökonomisch motiviert sind und alle anderen Aspekte ignorieren, sind aus baukultureller und ökologischer Sicht abzulehnen. Diese Abrisse müssen gestoppt werden.“

Matthias Haber ist Partner bei Hild und K Architekten in München und Berlin.

Lesen Sie nächste WocheTeil 2: Zerstörung im ländlichen Raum

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