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Im Süden nichts Neues
Neue Zürcher Zeitung

Ein Blick auf die Tessiner Architektur in Monte Carasso

3. August 1999 - Roman Hollenstein
Die Tessiner Baukunst - einst international bewundert - ist in die Jahre gekommen. Obwohl noch immer attraktive Bauten entstehen, hat eine Rückbesinnung die architektonischen Debatten abgelöst. Längst schon Geschichte ist die legendäre «Tendenzen»-Ausstellung in Zürich, die 1975 das Bauen im Südkanton erstmals zur Diskussion stellte. Kurz darauf erhob dann Kenneth Frampton die «Tessiner Schule» zum Musterbeispiel eines «kritischen Regionalismus». Seither ist sie Gegenstand zahlloser Zeitungsartikel, Aufsätze, Bücher und Ausstellungen. Diese Hinwendung gipfelt nun in einer Analyse des Bauens der letzten vier Dezennien im Tessin aus italienischer Perspektive. Es handelt sich dabei um eine von der Architekturabteilung der Universität Venedig unter Roberto Masiero konzipierte Wanderausstellung, zu der soeben die lang erwartete Begleitpublikation erschienen ist. Sie unterscheidet sich von früheren Katalogen und Übersichtswerken - etwa der 1996 von Peter Disch veröffentlichten «Neueren Architektur im Tessin», die leider auch viel Banales präsentierte - durch ihre Konzentration auf qualitätvolle Bauten.


Erinnerung an grosse Zeiten

Die Schau, die gegenwärtig in Monte Carasso bei Bellinzona im ehemaligen Convento delle Agostiniane gastiert, ist bis auf die kritische Einleitung mit dem Buch identisch. Grosse Schautafeln vermitteln einen thematisch-typologisch geordneten Überblick über rund sechshundert Bauten und Projekte, von denen hundert mit Abbildungen, Plänen und Kurztexten näher vorgestellt werden. Dass dabei den Einfamilienhäusern eine zentrale Stelle zukommt, überrascht kaum. Waren doch die ersten Bauten, mit denen sich um 1960 eine neue Generation aus dem Dunstkreis des Übervaters Rino Tami und der Wrightianer Brivio und Ponti löste, Einfamilienhäuser. Damals konnte Aurelio Galfetti mit seiner Casa Rotalinti noch ein markantes Zeichen in die Landschaft setzen, und Mario Botta war der Überzeugung, mit seinen Villen die Landschaft erst zu bauen. Diese Haltung, die sich kaum um das Ambiente kümmerte, trug das Ihre bei zur Verwandlung einer der schönsten Gegenden Europas in eine halbstädtische Agglomeration.

Der Städtebau hat in dieser suburbanen Welt, in der das Auto Mass aller Dinge ist, eine schwierige Position. So wird in diesen Tagen in Locarno Galfettis gigantische «Megarotonda» vor dem Castello Visconti dem Verkehr übergeben; und auf der Piazza del Sole in Bellinzona erinnern seit kurzem monumentale Betonkeile an die darunter sich befindende Tiefgarage. Von solch brutalem Umgang mit der Stadt heben sich Raffaele Cavadinis subtile Eingriffe in die verwinkelte Dorfstruktur von Iragna und der von Luigi Snozzi mit viel städtebaulicher Intelligenz vorangetriebene Umbau von Monte Carasso wohltuend ab. Neben dem urbanistischen Defizit machen Katalog und Wanderschau zudem deutlich, dass die Tessiner Architektur im Schulhausbau der sechziger und siebziger Jahre ihre hohe Zeit erlebte. Im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Revival dieser Epoche erhalten auch andere Frühwerke von Botta, Snozzi oder Vacchini eine Aura. Während Bottas individueller Stil schliesslich eine Schar uninspirierter Nachfolger auf den Plan rief, die von den Ausstellungsmachern zu Recht ignoriert wurden, hat die Snozzi-Schule mit ihren strengen Betonbauten dem Tessin eine neue Einfachheit beschert, die nicht zuletzt das Zentrum von Monte Carasso mit vielen guten Beispielen prägt.

Ausführlicher als die älteren Bauten werden die «jüngsten Recherchen» vorgestellt. Weil die jedoch den Stand von 1995 belegen und weil zudem die 18 wichtigsten Architekten mit je einem Beispiel gewürdigt werden, erfährt man hier kaum Neues. Von den - mit Ausnahme der beiden Mittfünfziger Botta und Ivano Gianola - heute bereits im Pensionsalter stehenden Tessiner Meistern ist in den letzten Jahren einzig Livio Vacchini zu neuen Ufern aufgebrochen. Sein klassizistisch gestraffter Rationalismus kreist um aktuelle Themen wie Fassadenhaut oder Entmaterialisierung und führt zu so provozierenden Bauten wie der Post von Locarno, so seltsamen Monumenten wie der Turnhalle von Losone oder so formvollendeten Bauplastiken wie dem Mehrfamilienhaus in Lugano. Vacchini ist sicher der schwierigste, vielleicht aber auch der bedeutendste Exponent der Tessiner Architektur der neunziger Jahre. Neben ihm wecken vor allem die Snozzi-Schüler Cavadini und Michele Arnaboldi Interesse sowie Roberto Briccola, dessen rigorose Haltung man gleich vor Ort im kleinen «Turmhaus» oder in der Casa Roggero überprüfen kann.


Hoffen auf innovative Ideen

Gewinnt die Ausstellung in Monte Carasso, dem bedeutendsten «Freilichtmuseum» für Tessiner Architektur und Städtebau, ganz entschieden von den Originalen gleich vor der Türe, so setzt das Buch auf Vertiefung. Dabei sieht es den architektonischen Diskurs gleichermassen von italienischer Rationalität und helvetischer Detailliebe bestimmt und sucht die Tessiner Eigenart in der Verschmelzung lombardischer Kultur mit einer vom Geist Le Corbusiers geprägten Deutschschweizer Ausbildung zu ergründen. Allerdings besitzt das Tessin inzwischen - vorab dank Bottas Initiative - eine eigene Architekturakademie in Mendrisio. Gleichwohl ist von baukünstlerischer Aufbruchstimmung kaum etwas zu spüren. Der Entfaltung der jüngeren Generation stehen allerdings weniger die arrivierten Meister als vielmehr die Seilschaften von Politikern und Investoren im Weg. Dabei verlangt das heutige Tessin nach innovativen Ideen und neuen Lösungen. Da kommt Luganos Bürgermeister Giorgio Giudici, von Haus aus selber Architekt, eher ungelegen, wenn er in dieser Krisensituation ein Kongresszentrum auf dem Campo Marzio an Botta vergeben und das verfallende Palace einem kommerziellen Neubau opfern möchte, statt es im Zusammenklang mit aktueller Architektur zu neuem Leben zu erwecken.


[ Die Ausstellung in Monte Carasso ist bis zum 29. August von Mittwoch bis Sonntag von 17 bis 20 Uhr geöffnet. - Begleitbuch: Architettura in Ticino. Hrsg. Roberto Masiero. Skira editore, Mailand 1999. 317 S., Fr. 84.-. ]

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