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Züge wurden mit Engeln verglichen, Bahnhöfe galten als die Kathedralen der Neuzeit. Ihre Anfänge im 19. Jahrhundert waren von hochfliegenden Erwartungen begleitet
Neue Zürcher Zeitung

Die Eisenbahn sollte die Menschheit ins goldene Zeitalter führen sollte. Bald stellte sich jedoch Ernüchterung ein.

10. April 2023 - Oliver Zimmer
Marshall McLuhan prägte 1962 die Vision des «global village», Francis Fukuyama verkündete 1989 das «Ende der Geschichte» – doch schon mehr als hundert Jahre vorher hatte die Beschleunigung des Verkehrs gebildete Zeitgenossen zur Erfindung moderner Erlösungsvisionen animiert. Besonders der mit Dampflokomotiven betriebene Personenverkehr, so der transnational gehegte Traum, werde die Menschen einander näherbringen. Alle Besonderheiten im Denken und Tun der weit verstreuten Erdenbürger – angesichts der neuen technologischen Möglichkeiten, so hoffte man, würden sie bald wie lästige Überbleibsel aus einer abgelaufenen Epoche erscheinen.

Bei kaum einer anderen technischen Erfindung griffen Beobachter öfter zu Metaphern mit Bezug zum Paradies, wobei sich auffällig viele Kirchendiener an der Heiligsprechung des neuen Transportmittels beteiligten. So wurde «Our Iron Roads», der detaillierte Bericht des englischen Geistlichen Frederick Williams, bei gebildeten Briten rasch zur Pflichtlektüre. Derweil verkündeten Geschichtsphilosophen wie Karl Marx oder Schriftsteller wie Heinrich Heine, mit der Eisenbahn habe die Zeit endgültig über den Raum triumphiert.

Für Heine markierte die Eröffnung der Bahnlinie von Paris nach Rouen und Orléans 1843 ein «providentielles Ereignis»: «Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.»

Ein geordnetes Leben

Den amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson brachten Fahrten mit der Eisenbahn und dem Dampfboot 1844 auf ähnliche Gedanken. Die neue Technologie sah er im Begriff, den Traum der Verfassungsväter einer von Partikularismen befreiten Republik zu verwirklichen. Nun – rund vier Jahrzehnte vor Einführung einer einheitlichen Zonenzeit für die nordamerikanischen Eisenbahnen – schien die Harmonisierung des Kontinents in greifbare Nähe gerückt zu sein.

Emerson verglich die neuen Verkehrsmittel mit einer Webmaschine: «Wir beobachten nicht bloss die Auslöschung der Distanz. Gleich dem Schiffchen beim Webstuhl, so gleiten auch unsere Lokomotiven und Kursschiffe täglich über die Tausende von Fäden, die unsere Nation und Arbeit sind, und verwandeln sie in ein einziges Gewebe. Jede Stunde steigert sich dieser Vorgang der Assimilation und bannt damit die Gefahr, dass lokale Besonderheiten und Feindschaften überleben können.»

Auch in ihrem Mutterland wurden der Eisenbahn beinahe magische Kräfte zugeschrieben. So formulierte der liberale Politiker William Ewart Gladstone in einer Rede, die er 1890 vor Bahnangestellten hielt, die Utopie einer Gesellschaft, die, indem sie sich einem einzigen Rhythmus fügt, den Schritt zur eigentlichen Moderne erst recht eigentlich vollzieht. «Während wir uns früher ständig mit der Gefahr der Unordnung konfrontiert sahen, verfügen wir heute über ein Instrument, das nichts anderes als ein geordnetes Leben zulässt (Applaus) – ein Leben, das dem alten monastischen System durchaus ähnelt, in dem alles dem Rhythmus der Uhr und der Kirchenglocke unterlag. Diese feste Ordnung bildet die Seele . . . des riesigen Eisenbahnnetzes, das unser Land nach allen Richtungen überzieht (Applaus).»

Ort der Hoffnung

Derweil wurden die in grossen und kleinen Städten entstehenden Bahnhöfe zu «Kathedralen der modernen Zeit» erklärt. Sie standen für jene zukunftsweisende Verschmelzung von nationalem und universalem Fortschritt, die für das Denken nationaler Reformgeister von Friedrich List bis Giuseppe Mazzini, von Alphonse de Lamartine bis Alfred Escher so bezeichnend war. Für den englischen Eisenbahnexperten Edward Foxwell waren die spätviktorianischen Bahnhöfe Orte der Hoffnung.

Die Züge, die unter ihren Dächern verkehrten, bezeichnete er, mit sanfter Ironie, als Engel ihrer Zeit. Ähnlich wie Gladstone sah Foxwell in der Eisenbahn jene Kraft, die die verwirrende Vielzahl menschlicher Rhythmen miteinander versöhnen sollte. So verband sich auch bei ihm die Erfahrung der Beschleunigung mit der Sehnsucht nach der grossen symphonischen Gemeinschaft.

Auch wenn Historiker die Eisenbahnzüge heute kaum mehr mit Engeln vergleichen würden: Äusserungen wie diejenige Foxwells prägen die Geschichtsschreibung zum Eisenbahnzeitalter bis heute. Den Trend dafür setzte Wolfgang Schivelbusch mit seinem Klassiker zur Eisenbahnreise. Das neue Verkehrsmittel habe das Raum- und Zeitbewusstsein der Menschen revolutioniert, argumentiert Schivelbusch in seinem brillant konzipierten Buch.

Die Zeit gefügig machen

Nun ist das Bild von der Eisenbahn als einer den Alltag umwälzenden Kraft keineswegs falsch. Das neue Verkehrsmittel hat das Leben vieler Menschen im 19. Jahrhundert tiefgreifend verändert, von der Politik und Wirtschaft ganz zu schweigen. Auch zur vielbeschworenen Beschleunigung des Lebens hat es zweifellos beigetragen. Lag die Durchschnittsgeschwindigkeit zu Fuss oder mit der Postkutsche bei vier beziehungsweise maximal dreizehn Kilometern in der Stunde, so kletterte sie mit der Eisenbahn in England 1850 auf rund dreissig und 1887 auf vierzig Kilometer pro Stunde.

Dennoch hat die Rede von der Überwindung des Raumes durch die Zeit den Blick für die Wirklichkeit des Eisenbahnzeitalters ein Stück weit verstellt. So animierten die Eisenbahnzüge die Arbeitspendler um London, Liverpool, Manchester, Philadelphia, Baltimore, Berlin oder Leipzig – im Gegensatz zu jenen Vertretern des oberen Bürgertums, die bei Schivelbusch und anderen Historikern den Ton angeben – kaum zur Komposition utopischer Visionen. Eher schon verdammten sie diese gar oft zu ungeduldigem Warten, besonders im Bereich der grossen Industriemetropolen, wo die Züge schon bald in dichtem Takt und mit zuweilen grosser Verspätung verkehrten.

Warten auf verspätete Züge wurde für Passagiere auch deshalb zum Problem, weil sie mit dem Versprechen eines berechenbareren Lebens aufgewachsen waren. Mit der Verbreitung des Eisenbahnfahrplans stieg auch die Erwartung einer besseren Kontrolle über die persönliche Lebenszeit. Sich die Zeit derart gefügig zu machen, dass ein berechenbarer Lebensrhythmus möglich sein würde – diese Hoffnung fand in der Eisenbahn ihre wohl wichtigste Projektionsfläche.

Leere Versprechungen

Im industriell und kommerziell frühreifen England fand die Enttäuschung dieser Erwartung beredten Ausdruck in Leserbriefen führender Tageszeitungen. Eisenbahnfahrende Leserbriefschreiber der «Times» signierten ihren Beitrag mit Pseudonymen wie «An Unfortunate Passenger», «An Alarmed Passenger», «All Behind, Tempus Fugit», «A Sufferer» oder «Weary Traveller».

Man hatte das Pech, in der Nähe einer Bahnlinie zu leben, auf der die Züge nur selten pünktlich verkehrten; oder man wohnte weit weg von einer Schnellzugverbindung: «Sir – wann wird die North-Eastern Railway Company sich um die Sorgen der unglücklichen Leute kümmern, die aufgrund ihrer Wohnlage keine andere Wahl haben, als ihre Züge zu benutzen?»

Die vom neuen Verkehrsmittel geschürten Fortschrittserwartungen hatten sich teilweise als leere Versprechungen entpuppt. Anstatt Beschleunigung und Berechenbarkeit erlebte man, zumal als Pendler in den urbanen Zentren, verspätete und überfüllte Züge. Beschaulich und berechenbar war das neue Verkehrsmittel allenfalls in der Provinz, wo nur wenige Züge verkehrten und wo reisegewohnte Geschäftsleute und Touristen, ob der grossen Lücken im Fahrplan, rasch die Geduld verloren.

Was sich damals abspielte, war unserer heutigen, dicht getakteten Welt also gar nicht so unähnlich: Der Ausbau des damals führenden Kommunikationsmittels hatte die Gesellschaft der unterschiedlichen Geschwindigkeiten nicht etwa beseitigt, wie man es sich erhofft hatte – es hatte diese tendenziell eher verschärft. Auch hatte es sie sichtbarer gemacht.

Wer nahe einer verlässlichen Bahnlinie wohnte, sparte nicht nur Zeit. Er verbesserte auch seine wirtschaftliche Situation und seinen sozialen Status, weil eine gute Bahnverbindung die Haus- und Bodenpreise schon damals rapide ansteigen liess. Wer dagegen das Pech hatte, an einer unzuverlässigen Bahnlinie zu wohnen, verlor gleich doppelt. Doch auch wenn sie den Himmel nicht auf die Erde brachte, so war sie doch bald alternativlos wunderbar, und ist es bis heute geblieben: die Eisenbahn.

[ Oliver Zimmer ist Forschungsdirektor beim Zürcher Forschungsinstitut Centre for Research in Economics, Management and the Arts (Crema). ]

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