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Hier wohnt das Wissen
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Ganz gleich, ob untergebracht in unauffälligen oder prunkvollen Gebäuden, in einem „Ozeanriesen“ oder einem privaten „Segelschiff“: Die Bibliotheken Wiens sind Schatzkammern und (fast immer) für alle Menschen zugänglich.

24. April 2023 - Harald A. Jahn
Angesichts seiner Endlichkeit das eigene Leben zu multiplizieren ist wohl ein Urtrieb des Menschen – mit Geschichten, Erfahrungen und Erinnerungen, die man sich anfangs am Feuer erzählt hat, bevor man sie nach Erfindung der Schrift auch niederschreiben konnte. Und so baute man den Erzählungen feste Häuser, die bald prachtvoller waren als die Unterkünfte der Menschen selbst: Für die Geschichten über Götter und das Jenseits wurden Tempel errichtet, während in Bibliotheken auch die weltlichen Aufzeichnungen gesammelt wurden.

Bereits in der mesopotamischen Hochkultur entstanden diese Wissensarchive, und die Bibliothek von Alexandria war als eine der ersten ihrer Art das geistige Zentrum der antiken Welt. Im Römischen Reich wurden Bibliotheken dann zum Statussymbol; in Europa waren es anfangs die Klosterbibliotheken, die historische Werke bewahrten. Nach der Erfindung des Buchdrucks kam es im Barock zur ersten Hochblüte, Herrscherhäuser sonnten sich im Prestige großer Sammlungen, im Kulturbereich ebenso wie im Bibliothekswesen.

„Nur die Bibliothekare haben ein verlässliches Bild der Welt – das steht schon im ,Mann ohne Eigenschaften‘!“ Im modernen Tiefspeicher der Nationalbibliothek erläutert der Archivar seine Philosophie, dann erklärt er die Transportlogistik: „Diese kleine Bahn bringt die bestellten Werke direkt durch die Schächte nach oben in die Lesesäle.“ Ein kleiner Transportwagen zieht eine senkrechte Schleife auf seiner Schiene und entschwindet surrend: Einige Stockwerke höher warten in sieben Sälen etwa 400 Leseplätze auf wissbegierige Menschen aller Art, privat oder studentisch, wissenschaftlich oder historisch interessiert. Ein Saal hat allerdings keinen Bahnanschluss: der soeben renovierte Prunksaal aus der Barockzeit. Hier stehen unter einer fast 30 Meter hohen Kuppel etwa 200.000 wertvolle Werke.

Bestände der Habsburger

Es war Kaiser Karl VI., der Johann Fischer von Erlach mit der Planung der Hofbibliothek beauftragte; der Bau begann allerdings erst in dessen Todesjahr 1723. Sein Sohn Joseph Emanuel vollendete das große Werk, von ihm stammen wohl vor allem die Fassaden, der Prunksaal des Vaters markiert einen Höhepunkt im österreichischen Hochbarock. Hier konnten erstmals die Buchbestände der Habsburger versammelt werden, die Bestände sind einheitlich gebunden und zeigen in den Regalen aus Nussholz ihre weitgehend einheitlichen Rücken. Dabei ist die Nationalbibliothek keine statische Ausstellung: Sie ist der wichtigste Wissensspeicher des Landes, bis heute müssen Pflichtexemplare jedes in Österreich erscheinenden Druckwerkes eingeliefert werden. Doch war die Sammlung gleich mehrfach in Gefahr: Beim Beschuss der Stadt während der Märzrevolution 1848 geriet der Augustinertrakt in Brand, der aber die Bibliothek verschonte; auch die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges überstand das evakuierte Gebäude unbeschädigt. 1992 kamen die Flammen den historischen Räumen dramatisch nahe, als der Redoutentrakt bei Sanierungsarbeiten Feuer fing; in Menschenketten gingen die wertvollen historischen Bücher von Hand zu Hand, um sie aus dem Gefahrenbereich von Feuer und Löschwasser zu bergen.

Auch wenn die Nationalbibliothek schon von Anfang an für den lernbegierigen Bürger geöffnet war, dauerte es 200 Jahre, bis in einer dann völlig veränderten Welt der Grundstein für den Zugang zum Wissen für die zuvor praktisch rechtlose Arbeiterklasse gelegt wurde. Am 20. Jänner 1923 trat das Gesetz zur Einführung der Wohnbausteuer in Kraft; in der jungen Ersten Republik legte die Sozialdemokratie das finanzielle Fundament für die Gemeindebauten des Roten Wien. Untrennbar damit verbunden war Bildung für alle: Neben anderen Gemeinschaftseinrichtungen sollten öffentliche Bibliotheken in zahlreichen Wohnhäusern entstehen.

Vorläufer und Auftakt war das Arbeiterheim in Favoriten, gebaut nach dem Vorbild von Volksheimen wie dem „Maison du Peuple“ in Brüssel; hier wurde die erste Arbeiterbibliothek der Stadt eingerichtet, viele weitere folgten. Eine der schönsten kann bis heute im Sandleitenhof in Ottakring besucht werden: Große Wandmalereien mit Motiven aus dem Leben der Werktätigen dekorieren den Raum, die Außenfassade zieren stilisierte aufgeschlagene Bücher.

Im heutigen Wien ist die Not der Zwischenkriegszeit weitgehend vergessen; die Idee städtischer geförderter Bildung wurde trotzdem in die Gegenwart gebracht. Lange hatten die öffentlichen Bibliotheken ein etwas verstaubtes Image, das änderte sich spätestens in den 2000er-Jahren, als mitten am Gürtel ein „Bücherschiff“ vor Anker ging, ein ikonisches Gebäude von Ernst Mayr. Es wirkt, als hätte es Segel gesetzt über dem Urban-Loritz-Platz (die Membranüberdachung von Architektin Silja Tillner war allerdings schon einige Jahre vorher da). Von staubiger Bücherstube keine Spur, es ist ein ruhiger Wellnesstempel für Leserinnen und Leser aller sozialen Schichten mitten in den Wogen des stürmischen Verkehrs rundum, der Panoramablick aus dem verglasten Lesebereich über der Stadt öffnet den Geist, es gibt keine Zugangsbarrieren, nur beim Entlehnen von Medien wird man nach der Mitgliedschaft gefragt.

Wasser, Bücher, Licht

Von der öffentlich geförderten zur individuellen Wissenswelt der Stadt: Auch sie wäre ohne die zahlreichen privaten Bibliotheken undenkbar.

Erinnert die Hauptbibliothek eher zufällig an einen Ozeanriesen, hat sich in Wien-Hietzing ein Segler seinen Traum erfüllt. „Luis Borges sagte: ,Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.‘ Das ist das Motto meiner Wasserbibliothek. Hier habe ich die mein Leben prägenden Elemente zusammengeführt: Wasser, Bücher, Licht.“

Alfred Zellinger war und ist Manager, Künstler, Literat, Flaneur; sein schlichtes Siedlungshaus hat er mit dem Architekten Norbert Tischler um ein präzise konstruiertes Tortenstück ergänzt, das maritime Formen zitiert, puristisch und effizient. Über dem dreieckigen Pool im unteren Bereich schwebt, getragen von einer Sichtbetonwand und Nirosta-Profilen, das Bibliotheksgeschoß mit gläsernem Boden: Das tiefe Blau des Beckens bringt die Weite der Meere in den Raum.

Als Autor beschäftigt sich Zellinger mit den großen Klassikern, die er in Werken wie „Doktor Faustus in London, Banker, Oligarch“ neu interpretiert. Welche Geschichten haben ihn am meisten geprägt? „Es war die Sage von Odysseus – als Segler bin ich seinen Routen gefolgt, habe seine Häfen angelaufen. Er hat mich inspiriert – und zum Europäer gemacht.“ Aber wie hat seine persönliche Lesereise begonnen? Zellinger lacht: „Meiner Mutter sei Dank – für ihren Bücherschrank!“

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