Artikel

Die Welt hinter der rosaroten Brille
Der Standard

Eine (zum Glück analoge) Ausstellung widmet sich den Reizen und Potenzialen virtueller Räume und KI-generierter Architekturbilder. Wollen wir da wirklich hin? Ja und nein.

6. Mai 2023 - Wojciech Czaja
Neunzig Millionen Bienenstöcke, 3357 Algenfarmen und 932 Zettabytes an Daten. Geht es nach dem australischen Architekten und Filmemacher Liam Young, so könnte man die zehn Milliarden Menschen, die im Jahr 2050 die Erde bevölkern werden, in einer einzigen Stadt zusammenpferchen. Diese Stadtutopie, kurz Planet City, würde lediglich 0,2 Prozent der Erdoberfläche einnehmen – vergleichbar mit der Größe von Texas, Ägypten oder Skandinavien, mit dem Vorteil, dass sich in Zukunft 99,98 Prozent des Planeten wieder regenerieren könnten.

Der gleichnamige Film Planet City, 15 Minuten geballter Utopie, zeigt riesige Wohntürme, zerklüftete Felskanten mit drangepickten Häuschen, romantische Abenddämmerungen, pinke Gemüsefelder, so weit das Auge reicht, und gigantische Batterien von Solarfarmen, die die neue Hyperpolis umgeben und mit Energie versorgen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Blicken in die Zukunft ist dieser nicht nur dystopisch. 2555 Feste und Feiertage, hat sich Young ausgerechnet, würden in Planet City aufgrund der kulturellen Dichte nahtlos ineinander übergehen.

„Planet City ist ein Mikrokosmos, der auf dem globalen Konsens beruht, dass wir uns auf kleiner Fläche zurückziehen und die Erde wieder sich selbst überlassen“, sagt Young, den die BBC als „the man designing our futures“ bezeichnet. „Ob ich möchte, dass diese Stadt auch wirklich gebaut wird? Natürlich nicht! Planet City ist eine Provokation. Es ist die Einladung, dass wir uns eines Tages an einem pinken Algensee verlieben. Dass wir uns in unterschiedliche Zukünfte hineindenken und hineinprojizieren. Dass wir das, was wir hier lernen, auch auf die gebaute, bereits existierende Stadt übertragen.“

Sehnsuchtsorte und Dreamscapes

Planet City hat nun erstmals den Weg in ein österreichisches Museum gefunden, und zwar in die Ausstellung /imagine: Eine Reise in die neue Virtualität, die kommenden Dienstag im Museum für angewandte Kunst (Mak) in Wien eröffnet wird. /imagine: ist eine zum Glück reale, analoge, ganz und gar handfeste Ausstellung über die neuen virtuellen Welten, die wir permanent kreieren, über ihre künstlich geschaffenen Räume, über ihre kulturellen und ökologischen Potenziale – aber auch über die sozialen, politischen und kapitalistischen Abgründe, die in der neuen Technologie lauern.

„Im Corona-Lockdown sind viele Sehnsuchtsorte entstanden, sogenannte Dreamscapes, die in den sozialen Netzwerken viral gegangen sind“, sagen die beiden Kuratorinnen Marlies Wirth und Bika Rebek. „Es ist aufregend, diese Bilder zu konsumieren und sich dem Hype hinzugeben, der nicht mehr einigen wenigen Fachleuten vorbehalten ist wie noch vor ein paar Jahren, sondern dank niederschwelliger Programme wie etwa Dall-E, Midjourney und Stable Diffusion nun auch für die breite Masse zugänglich ist.“

Die Aufgabe der Kulturtechnik sei es, nicht nur auf der Welle mitzuschwimmen, sondern die neuen virtuellen Möglichkeiten zu hinterfragen und zu analysieren. „Wer sind die Protagonistinnen und Künstler? Woher kommt der Wunsch nach diesen fiktiven Orten überhaupt? Und wohin kann die Reise gehen?“ Der typografisch etwas sperrige Titel /imagine: wird eingefleischten Fans bekannt vorkommen, handelt es sich dabei doch um eine Art Reiseantritt, um den Tastaturbefehl, den man im KI-Programm Midjourney eingeben muss, um computergenerierte Images, sogenannte CGIs, zu erstellen.

Charlotte Taylor und Anthony Authié vom Pariser ZYVA Studio haben das schon öfter gemacht. Als Reaktion auf Covid- und Klimakrise bedienen sich die beiden bekannter Architekturikonen des 20. Jahrhunderts und setzen diese in eine neue, post-anthropozentrische, geografisch leicht verfremdete Welt. Nicht in Los Angeles, sondern plötzlich an einer pinkfröhlichen Steilküste in der Nähe von Marseille balanciert, einsam und menschenleer, John Lautners berühmtes Chemosphere House aus dem Jahr 1960.

Immer öfter dient der virtuelle Raum auch als grenzenlose Visitenkarte für Abenteuer und Kundenakquise. Das Salzburger Architekturbüro Studio Precht kommt genau so an seine Aufträge: Statt an offenen, unbezahlten Wettbewerben teilzunehmen, investiert es lieber in virtuelle Entwürfe, die dermaßen schön, g’scheit und sympathisch sind, dass sich sämtliche Blogs, Newsletter und Zeitschriften darum reißen – und manchmal eine reale Anfrage eines realen Bauherrn eintrudelt. So wie zum Beispiel beim Baumhaus Bert, das auf diese Weise von der Pixelwelt auf den Pogusch kam, wo es für 400 Euro pro Nacht an Restaurantgäste des Steirerecks vermietet wird.

Erste Euphoriephase

Andrés Reisingers Hortensia Chair blickt auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte zurück: Vor fünf Jahren präsentierte der argentinische Designer einen fiktiven, 3D-gerenderten Fauteuil auf Instagram und bekam daraufhin eine solche Flut an Kaufanfragen, dass das gute Stück – in Kooperation mit der Textildesignerin Júlia Esqué und dem dänischen Möbelhersteller MOOOI – erst in eine limitierte Kleinserie und schließlich in Serienproduktion gegangen ist. Um 6500 Euro kann man in den rund 30.000 zusammengenähten Polyester-Blütenblättern Platz nehmen, et voilà!

„Wir stecken derzeit in der Euphoriephase, was die Möglichkeiten der virtuellen 3D- und KI-Produktion betrifft“, sagen Marlies Wirth und Bika Rebek. „Zugleich aber tauchen bereits die ersten Ängste und Zweifel auf: Wie können wir Datenmissbrauch unterbinden? Was tun, wenn wir in Bild- und Filmwelten bald nicht mehr wissen, was echt und was unecht ist? Und wie können wir uns in Zukunft gegen Fake News und Digital Colonialism der White-Collar-Gesellschaft zur Wehr setzen?“

Gleichzeitig bietet die Welt hinter dem Befehl /imagine: große Chancen. In der Baubranche können Prozesse optimiert, Müll und Verschnitt reduziert, materielle Ressourcen geschont werden. Dank KI können wir von der gebauten Welt und unseren Kulturgütern – auch von bedrohten oder bereits zerstörten – digitale Zwillinge erstellen. „Vor allem aber“, sagen die beiden Kuratorinnen, „kann KI die Fantasie anregen und ein Katalysator für Gedankenexperimente sein. Wir können damit nicht nur Architektur entwerfen, sondern vielleicht auch den Umgang mit unserem Planeten neu denken.“ Das sollten wir.

„/imagine: Eine Reise in die neue Virtualität“ im Mak, Eröffnung am 9. Mai 2023, 19 Uhr

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: