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Hinterholz 101
Der Standard

Ein altes, baufälliges Gründerzeithaus am Stadtrand von Leipzig. Was tun? Das außergewöhnliche Architekturbüro Summacumfemmer hat sich des Patienten angenommen und ihn nicht saniert, nicht renoviert – sondern einfach nur repariert. Ein Besuch.

22. Juli 2023 - Wojciech Czaja
Der Putz abgeschlagen, die gesamte Fassade einfach nur mit Romanzement geschlämmt. Für ein hochwertiges Stiegenhaus kein Geld, stattdessen ein simples Bauprovisorium, aus handelsüblichen Schichtholzplatten zusammengebastelt. Fenster vom Fensterproduzenten, ebenfalls Fehlanzeige, zu teuer, zu aufwendig im Einbau, viel zu lange Lieferzeiten, es geht auch anders, einfache Zwei-Scheiben-Fixverglasungen zum Beispiel, mit Gummidichtungen und Klammern an die Mauerlaibung geschraubt, das tut’s fürs Erste auch.

„Wenn wir ein altes, in die Jahre gekommenes Haus in Schuss bringen“, sagt Florian Summa, 41 Jahre alt, „dann sprechen wir in der Regel von Sanierung, Renovierung, Restaurierung oder sogar Rekonstruktion. Aber diese kostspieligen Erneuerungen sind nicht die einzige Möglichkeit! Wir wollen beweisen, dass es auch anders geht, dass man ein altes, gründerzeitliches Haus auch reparieren kann, so wie man einen Schuh oder eine zerrissene Jeansjacke repariert.“

Mindset-radikal

Ort der baulich manifest gewordenen Beweisantretung ist die Dieskaustraße 101 in Leipzig, fernab der Innenstadt, elf Tramstationen stadtauswärts, im von Textilfabriken und schweren Industriearealen geprägten Stadtteil Kleinzschocher. Obwohl das 1888 errichtete Haus die letzten 30 Jahre lang leerstand, mit Taubenkolonien im Dachboden, teils eingestürzten Holzbalkendecken und längst zerstörtem Stiegenhaus, obwohl die Fassade mit blauen, engmaschigen Baugerüsten eingehüllt war, Gefahr in Verzug aufgrund von herabfallenden Bauteilen, war es um den Architekten und seine Partnerin Anne Femmer, die den Bastlerhit – die Bauruine – 2014 auf immoscout24.de gefunden hatten, von der allerersten Sekunde an geschehen.

„Wir hatten schon einige Jahre Auslandserfahrung hinter uns, hatten bereits in Wien, Zürich, Gent, London und Tokio gearbeitet, und uns schien die Zeit reif, uns eine eigene Existenz aufzubauen. Wo, wenn nicht in Leipzig! Eine spannende, dynamische Stadt, deren Geschichte noch nicht fertiggeschrieben ist, die noch viel Input, Inspiration und Initialzündungen benötigt, in der wir als Architekten, Architektinnen zur künftigen Entwicklung einen essenziellen Beitrag leisten können. Und dieses baufällige Haus, was für eine schöne Herausforderung!“

Der Kaufvertrag wurde unterzeichnet, das sächsische Hinterholz 8 nahm seinen Lauf, und das frisch gegründete Büro Summacumfemmer übte sich von da an nicht nur in der Schreibtischplanung von Architektur, sondern auch in der staubigen, baustelligen Realisierung selbiger – mit Maurerkelle, Kreissäge und kilometerweise ausgerollten Kabeltrommeln im ganzen Haus. Heute zählt Summacumfemmer, das auf der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig den deutschen Pavillon mitkuratiert hat, zu den jüngsten, fröhlichsten, ohne jeden Zweifel Mindset-radikalsten Architekturbüros Deutschlands.

„Unser Ziel war, aus dem Nichtfunktionieren wieder ein Funktionieren zu machen“, sagt Florian Summa, öffnet die Tür ins Stiegenhaus, eine simple Stalltür aus verzinktem Stahl, beplankt mit Polycarbonat-Stegplatten zur minimalen Wärmedämmung, gefunden um einen Pappenstiel bei einem bayerischen Stallproduzenten. Das alte Holzportal hingegen, verzogen und undicht, wurde um ein paar Meter versetzt und dient nun als Eingangstür ins erdgeschoßige Büro. Überall weiß gekalkte Ziegelwände, Lichtschalter vom Elektriker ums Eck, aufputzgeführte Stromkabel, im Durchbruch zwischen den beiden großen Arbeitsräumen steht ein Bullerjan, daneben ein Holzstapel für die winterlichen Monate.

Tausende Stunden Arbeitszeit

„Im ersten Stock wohnen wir mit unseren beiden Töchtern“, sagt Florian Summa, die Schichtholzskulptur emporklimmend, „im zweiten Stock gibt es zwei Wohnbereiche für unser Au-pair-Mädchen sowie für einen lieben Freund, der immer wieder in Leipzig pennt, und im dritten Stock und im Dachgeschoß ist noch Baustelle, da kann man sich ein Bild davon machen, was wir in den letzten Jahren schon alles repariert haben.“

Ein Fußboden aus Holzdielen und OSB-Platten, schlammgrün lackiert, eine silberne Unterspannbahn, damit die an der Decke angetackerte Wärmedämmung nicht auf den Kopf rieselt, zur Unterstützung in der Küche eine Gerüststange, die zugleich als Handtuchhalter dient, an der Wand eine gebrauchte, zufällig gefundene Küchenzeile von Bulthaup. Die Reparatur des Gründerzeithauses in der Dieskaustraße 101 ist noch lange nicht fertig. Zu den bereits investierten tausenden Stunden Arbeitszeit, schätzt Florian Summa, werden noch viele weitere Tausende hinzukommen. Doch wozu das ganze Unterfangen? „Als In-situ-Reallabor und Experiment am eigenen Leib. Denn wenn wir von Kreislaufwirtschaft und Ressourcenmanagement sprechen, dann können wir mit unseren Hausreparaturen nicht so umgehen, als würden wir jedes Mal aufs Neue einen perfekten, neuwertigen Neubau auf die grüne Wiese stellen, dann müssen wir endlich umdenken, die Bauordnung und die Normen adaptieren“ – und ganz generell die Planungskultur in der Architektur und Immobilienentwicklung gründlich überdenken.

„Wenn ich mich an ein altes Haus herantaste, dann will ich nicht zwei Jahre im Voraus bis zur letzten Türklinke alles vorausgedacht haben. Wo bleibt da noch Platz für Zufall und Spontaneität, für die Geschichten, die das Haus mir zu erzählen hat?“ Ist die Leipziger Hausreparatur der Schlüssel zur Zukunft? Nein, liebe Bauherren und Hausbesitzerinnen, aber ein wertvoller Gedankenöffner.

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