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Zerlumpter Gürtel, wilder Rand
Der Standard

Die Kleingartensiedlungen Wiens sind heiß begehrt, nicht nur bei Politikern. Doch viele von ihnen haben eine illegale Vergangenheit. Zwei Forscher der TU Wien haben die komplizierte Zähmung dieses widerspenstigen Siedelns analysiert.

7. Oktober 2023 - Maik Novotny
CHAOTISCHER STADTRAND: DAS GROSSE ORDNUNGSPROBLEM“ stand in anklagenden Großbuchstaben auf einem der Plakate der Ausstellung Die Stadt von Heute und Morgen und ihr Umland . Man schrieb das Jahr 1956, und beim XXXIII. Kongress für Wohnungswesen und Städtebau in Wien zerbrachen sich Stadtplaner die Köpfe darüber, wie man den wilden Stadtrand bändigen könnte. In den Donauauen des Ostens, an den Wienerwaldhängen des Westens, auf den Äckern des Nordens und Südens wuchsen die illegalen Siedlungen heran, meist abseits der Infrastruktur und in völliger Ignoranz aller Ideen der Stadtplanung für Wiens Zukunft.

Schon 1952 bilanzierte der Magistrat nach einer Ortsbeschau in der Siedlung Oberlisse, man habe eine „unwirtschaftliche Längslage der Parzellen an Wegen, die zu geringen Abstand zueinander haben“ vorgefunden. Der Versuch, das Formlose mit ordentlichen Straßen und Plätzen in Form zu bringen, scheiterte. Der Rand scheint sich jeder Ordnung zu widersetzen.

Die Causa um die Grundstückserwerbe von SPÖ-Persönlichkeiten wie Ernst Nevrivy in der Gartensiedlung Breitenlee haben diesen Rand wieder ins Bewusstsein gerückt. Auch die derzeit für Schlagzeilen sorgende Siedlung am Gewässer mit dem naturidyllischen Namen „Krcalgrube 2“ war bis in die 1970er-Jahre eine Gstätten, mit illegal errichteten Selbstbauten im Grünland. Es folgte ein Pingpong-Spiel aus Umwidmungsansuchen und wildem Bauen, ein Ringen um nachträgliche Legalisierung. Bis heute. Das ist kein Einzelfall – im Gegenteil.

Denn im Wien des 20. Jahrhunderts lebten zeitweise bis zu 100.000 Menschen in illegalen oder halblegalen Siedlungen, erzählen Andre Krammer und Friedrich Hauer vom Institut für Städtebau der TU Wien, die seit Jahren intensiv über den „wilden Stadtrand“ Wiens forschen. Eine Geschichte, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg beginnt, als die Siedlerbewegung dem Notstand auf eigene Faust trotzte.

„Es gab 1919 und 1921 große Demonstrationen am Ring und vor dem Rathaus, wo von über 100.000 Leuten die Rede ist,“ erzählen die beiden Forscher im ΔTANDARD-Gespräch. „Das heißt, es gab eine Masse und einen sozialen Druck, mit dem man irgendwie umgehen musste. Eine Tabula-Rasa-Politik der Räumung wäre politisch nicht durchsetzbar gewesen. Man hatte damals den Armen schließlich auch nichts anzubieten, weder Sozialwohnungen noch ausreichend Nahrung.“

Eine Reporterin des National Geographic , die 1922 investigativ den Wiener Stadtrand durchstreifte, nannte diesen einen „zerlumpten Gürtel“, und Adolf Loos diagnostizierte in der bürgerlichen Presse der „Schrebergärtnerei“ 1921 eine „Psychose“. Die Siedlerbewegung ist gut recherchiert und gilt in der Geschichtsschreibung als Vorläufer zum Gemeindebau des Roten Wien, der alles in schöne Ordnung brachte. Doch das, stellten Hauer und Krammer fest, stimmt nicht ganz. Denn Ordnung und Chaos existierten jahrzehntelang nebeneinander her.
Brettldorf vs. Bruckhaufen

Die beiden Forscher analysierten die Siedlungen und reihten sie nach Grad der Illegalität. Die Ackersiedlungen entstanden auf Parzellen, die von Bauern verpachtet wurden, in den Gemengesiedlungen vermischte sich reguläres und irreguläres Siedeln, und am wildesten ging es vor allem an steilen Wienerwaldhängen und im Schwemmland der Donau zu, wo sich die Siedlungen Brettldorf, Biberhaufen und Bruckhaufen breitmachten. Doch auch hier gab es feine soziale Unterschiede, sagen die Forscher: „Die Siedlung am Bruckhaufen lag etwas höher und war weniger hochwassergefährdet als das benachbarte Brettldorf, das zudem Schritt für Schritt der städtischen Mülldeponie weichen musste. Die Bruckhaufner haben dann schon auf die Brettldorfer heruntergeschaut.“

Auch die Wiener Sozialdemokratie wusste nie so recht, wie sie sich zum anarchischen Acker-und-Sumpf-Proletariat verhalten sollte und pendelte unschlüssig zwischen strengem Ermahnen und Laissez-faire. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Hochphase der großen Stadtplanungsideen, versuchte man mit dem Aufstellen von Plakaten, mit Radioansprachen und Werbefilmen gegen das wilde Siedeln zu kampagnisieren. Ohne viel Erfolg.

„Also beschloss die Magistratsdirektion 1965 eine Art Generalamnestie“, so die beiden Forscher. „Damals arrangierte man sich mit dem, was da war, und von den tollen Ideen im Planungsdiskurs aus den 20 Jahren davor hörte man von da an nichts mehr. Man strebte nach einem langwierigen Prozess der Legalisierung von oben.“ Eine Politik der Konfliktvermeidung und österreichischen Lösungen, womit man bisweilen auch die eigenen Beamten zur Verzweiflung trieb. „1982 wendet sich ein Beamter an die höhere Verwaltungsebene und berichtet, dass ihre Erhebungen viele Objekte ergeben haben, für die man den Abbruch anordnen musste, was dann aber oft durch Weisungen und Berufungsverfahren verschleppt wurde“, erzählen die Forscher. Von den 1700 Abtragungsaufträgen illegal errichteter Bauten seit 1974 waren bis 1982 nur 620 umgesetzt worden. Der Beamte wies darauf hin, dass man sich entscheiden müsse, ob man den Regeln folgt oder die Regeln den Zuständen anpasst.
Aufgepimpte Favelas

Man entschied sich für Letzteres. Die Novelle 1992 erlaubte erstmals das ganzjährige Wohnen im Kleingarten, und die grünen Erholungsgebiete wurden zu aufgepimpten Nobel-Favelas mit schmalen Rasenstreifen zwischen Thujenhecke und Einfamilienhaus mit über 100 Quadratmeter Wohnfläche. Trotzdem waren die Magistratsabteilung 21 und das „Referat zur Bekämpfung des wilden Bauens“ bis zur Jahrtausendwende immer noch damit beschäftigt, das wilde Siedeln zu zähmen. „Man könnte die These aufstellen, dass man in Wien auch deswegen so konziliant mit dem wilden Siedeln umgegangen ist, weil man über acht Jahrzehnte kaum Wachstumsdruck hatte“, vermuten Hauer und Krammer.

Das hat sich geändert. Seit 2009 ist Wien um die Größe von Graz gewachsen, und das vor allem an den Rändern. In der Seestadt Aspern, in Floridsdorf und Liesing wird hochverdichtet gebaut, und in Rufweite der ehemals illegalen Siedlung Rustenfeld (heute in Niederösterreich) wird bald mit Rothneusiedl ein komplett neuer Stadtteil auf dem Acker entstehen.

Die Gartensiedlung an der Krcalgrube 2 liegt heute direkt neben der U2- und Schnellbahnstation Aspern Nord und bald auch an der umstrittenen Stadtstraße. 2021 wurde sie vom Erholungsgebiet in eine Kleingartensiedlung mit ganzjähriger Nutzung umgewidmet. Die Gstätten wurde zur Prime Location, und der ehemalige Rand der Stadtgesellschaft ist heute von den Mächtigen der Stadt besetzt. Aber wirklich städtisch wurde er nicht.

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