Artikel

Eine Werkstatt namens Westbalkan
Der Standard

Sarajevo ist zwar wunderschön, hat aber auch einen Haufen infrastruktureller Probleme. Der Reparaturbedarf ist enorm. Architekten, Städtebauer und sogar Kulturschaffende scheinen den Westbalkan nun neu zu entdecken.

18. November 2023 - Wojciech Czaja
Nach ein paar Minuten kommt der Kellner mit den Metalltellern. Ein halbes Fladenbrot, gefüllt mit zehn Ćevapčići, eine von oben wild hineingerammte Gabel, daneben ein Gupf Rahm und ein Berg aus fein gehackten Zwiebeln. Die Baščaršija, eine Art Jerusalem im Kleinen, eine Collage aus Kreuzen, Monden und Sternen, ist das Ćevapčići-Epizentrum der Welt. Hier liegt, Grillofen an Grillofen, eine Ćevabdžinica neben der anderen, die Željo, die Softić, die Mrkva, die Petica und die Hodžić, allesamt historische Familienbetriebe. Jede einzelne Familie hält ihr Rezept seit Generationen schon streng geheim.

Doch leider ist Sarajevo nicht nur eine der schönsten, sinnlich intensivsten Städte Europas, sondern zugleich auch einer der größten urbanistischen Patienten. Unter der Last der eigenen, so reichhaltigen Geschichte kam es im Laufe der Zeit zu eklatanten Brüchen – hin- und hergerissen unter den Slawen, Osmanen und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, blockfreie Teilrepublik des Vielvölkerstaats Jugoslawien, ein Hotspot von Ethnien, Kulturen und Religionen, Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1984 sowie, wenig später, Tatort des drei Jahre lang andauernden Bosnischen Krieges, der der Stadt und ihren Menschen große Wunden zugefügt hat.

„Es ist viel passiert, und jede einzelne Epoche hat die Stadt auf ihre Weise weitergebaut und weiterentwickelt“, sagt die bosnische Architektin und Stadtplanerin Nermina Zagora, ihr Büro befindet sich in der 1966 errichteten Terrassensiedlung Ciglane, abgetreppt in den Hang hineingebaut, mit eigener Standseilbahn und Blick auf die ganze Innenstadt. „Die Folge ist, dass wir es heute mit einer städtischen Infrastruktur zu tun haben, die stark fragmentiert ist und die nie ein konsistentes Konzept hatte. Wir haben so viele Umbrüche und Veränderungen erlebt, wir sind irgendwie „lost in translation“.“

Der Verkehrsmasterplan stammt noch aus den 1970er-Jahren, als die Klimakrise noch in weiter Ferne lag. Das öffentliche Verkehrssystem wiederum baut auf einer einzigen Straßenbahnlinie auf, die sich wie eine eiserne Schlinge um die Bašèaršija legt, den Rest übernehmen Busse und neu angekaufte, knallgelbe Trolleybusse. Doch die größte Herausforderung ist die Erschließung der Hillside-Settlements, der sogenannten Mahalas, die in Form von einst informell errichteten Hütten, Häusern und Villen an den Nord- und Südhängen der Stadt den Berg hinaufwachsen.

Hoher Motorisierungsgrad

„Die Mahalas verleihen der Stadt ihr unverwechselbares Gesicht, sind aber auch ein großes infrastrukturelles Problem“, sagt Zagora, die letztes Jahr in Zusammenarbeit mit Dina Šamić das Buch Urban Rooms of Sarajevo herausgebracht hat. „Für eine hochwertige Verkehrsverbindung ist die Topografie zu steil, die Straßenstruktur zu verwinkelt, und die Seilbahnkonzepte, die in Anlehnung an südamerikanische Öffi-Modelle angedacht wurden, sind allesamt an den hochkomplexen Eigentumsverhältnissen gescheitert. Die Folge ist: Die meisten fahren mit dem Auto.“

Der hohe Motorisierungsgrad sowie die katastrophale Wärmeversorgung – an die 40.000 Haushalte heizen laut einer Schätzung der Umweltorganisation Eko-Akcija mit Holz, Kohle und Haushaltsmüll, manchmal sogar mit alten Autoreifen – führt dazu, dass die Feinstaubbelastung in den Wintermonaten über dem Zehnfachen des EU-Grenzwerts liegt. Aufgrund der Lage im Talkessel ist die Luftverschmutzung dann größer als in Peking, Mumbai oder Neu-Delhi. „Je nach Wetterlage“, sagt Zagora, „liegt der Rauch oft tagelang über der Stadt. Wir brauchen dringend eine Lösung.“

Die Stadt als Burek

Das weltweit tätige Netzwerk Urban Think Tank (UTT) arbeitet genau daran. Die beiden Architekten und Stadtforscher Hubert Klumpner und Michael Walczak, die an der ETH Zürich Architektur und Urban Design unterrichten, nahmen die größten Defizite Sarajevos unter die Lupe und luden Büros aus aller Welt ein, sich an der Lösungsfindung in Form von Visionen, Konzepten und Best-Practice-Beispielen zu beteiligen. Das Resultat ist eine Ausstellung unter dem Titel 100 Ideas for the Western Balkan. Designing Urban Imagineries , die im Rahmen der Architektur-Olympiade kürzlich im Europäischen Haus der Kultur in Sarajevo zu sehen war.

„Zum einen ist Sarajevo eine Stadt mit riesigen infrastrukturellen Problemen“, sagt Hubert Klumpner, „zum anderen hat man sich hier im Kaleidoskop der Geschichte immer schon weit mehr getraut als in vielen anderen Städten. Sarajevo war und ist ein urbanistisches Experimentierfeld. Auf diesem baukulturellen Erbe können wir aufbauen.“ Die Frage ist nur: Wie? Wie kriegt man den enormen Reparaturbedarf, den mehr als 40-jährigen Entwicklungs- und Investitionsrückstau in den Griff?

„Die wichtigsten Schritte sind der Ausbau des Verkehrs und des Fernwärmenetzes, die Renaturierung der Miljacka, die durch die Stadt fließt, sowie die Aktivierung von unverbauten Nord-Süd-Achsen, die im mittlerweile dicht besiedelten Talkessel von Sarajevo als wertvolle Frischluftschneisen genutzt werden könnten“, sagt Klumpner.

Ein Projekt in der Ausstellung zeigt, wie der Fluss gereinigt, das Ufer umgebaut und die titelgebende Copacabana nach Sarajevo gebracht werden könnte. Ein anderes Projekt beschäftigt sich damit, das bislang linear strukturierte Sarajevo zu einem Ring rund um den Berg Žuč auszubauen – zu einer Art „Burek“ (O-Ton Walczak) – und der Stadt auf diese Weise eine neue Mobilitäts- und Wachstumsachse anzubieten.

Aber auch überraschende Fragen tauchen auf: Wie kann man von der Olympiade 1984 profitieren? Wann kommt endlich Renzo Pianos neues Ars-Aevi-Museum für zeitgenössische Kunst? Und was tun mit all den Maroni, die rund um Sarajevo wachsen, bislang aber kaum genutzt werden? Die vom Österreichischen Außenministerium mitfinanzierte Ausstellung 100 Ideas for the Western Balkan gibt mögliche Antworten und versteht sich als lebendige Wanderausstellung, die nun über den Westbalkan touren und sich auf ihrer Reise kontinuierlich verändern wird. Nächster Halt ist die albanische Hauptstadt Tirana (ab 25. März), danach geht’s weiter nach Belgrad, Podgorica, Skopje und Priština.
Wiederentdeckung

In der Zwischenzeit wird die Wiederentdeckung des Westbalkans auch in Wien zelebriert: Die Kunsthalle Wien widmet sich in ihrer Ausstellung No Feeling Is Final. The Skopje Solidarity Collection dem künstlerischen und baukulturellen Erbe der nordmazedonischen Hauptstadt und geht der Frage nach, wie das heutige Skopje als Collage aus Kenzo Tange, Sozialbrutalismus und neobarocker Zuckerbäckerbehübschung gehegt, gepflegt und gerettet werden kann. Oder, wie Hubert Klumpner sagt: „Wir müssen unseren Blick ändern und endlich lernen, den Westbalkan neu zu lesen.“

Die Reise nach Sarajevo erfolgte auf Einladung der Sektion Internationale Kulturangelegenheiten des BMEIA. Buchempfehlung: „Architectural Guide Sarajevo“, kürzlich erschienen bei DOM Publishers.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: