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Jugendjahre eines Genies
Neue Zürcher Zeitung

Der Tessiner Barockarchitekt Francesco Borromini in Lugano

Das Museo Cantonale d'Arte in Lugano widmet anlässlich des 400. Geburtstags von Francesco Borromini dem aus Bissone stammenden Barockarchitekten eine grosse Ausstellung. Unter dem Titel «Dagli esordi a San Carlo alle Quattro Fontane» versucht sie die künstlerische Entwicklung des genialen Baumeisters bis hin zu seinem ersten römischen Meisterwerk nachzuzeichnen.

10. September 1999 - Axel Christoph Gampp
Der Pressemitteilung zur Borromini-Ausstellung im Museo Cantonale d'Arte in Lugano ist zu entnehmen, dass die Namen aller grossen Barockarchitekten mit «B» beginnen: Bernini, Borromini, Berrettini (Pietro da Cortona). Folgt man dieser Logik, so muss die Liste in die Gegenwart hinein erweitert werden: «B» wie Botta. Denn die Hand des Tessiner Stararchitekten ist bei der Präsentation des alten Meisters omnipräsent. Der Ausstellung ist der Einfluss freilich ausgezeichnet bekommen. Hier hat sich der eine Architekt in den Dienst des anderen gestellt und Ausserordentliches ermöglicht. Es ist Bottas Beziehungsnetz zu verdanken, dass das wissenschaftliche Komitee mit hochkarätigen Persönlichkeiten besetzt wurde (Thelen, Connors, Scotti, Oechslin, Bertelli usw.) und dass mehrere von ihnen auch einen Beitrag zum vorzüglichen Katalog geleistet haben. Pikant freilich, dass ausgerechnet ein Aufsatz zu San Carlo aus der Festschrift Bertellis nicht in der Bibliographie Erwähnung findet. Aber insgesamt hat sich der Aufwand gelohnt, der zugleich der Architekturakademie von Mendrisio die Gelegenheit zu einem Auftritt bot. Diesen hat sie in vielerlei Hinsicht mit Bravour bestanden. Derzeit sähe sich kein anderes Schweizer Universitätsinstitut zu einer vergleichbaren Leistung imstande. Pläne und Modelle wurden von der Akademie beigesteuert; selbst die diskrete Ausstellungsarchitektur aus Karton scheint aus ihren Werkstätten hervorgegangen zu sein.


Lehr- und Wanderjahre

Das Grundproblem der Ausstellung ist, dass der zu dokumentierende Lebensabschnitt erst an seinem Ende in einem interessanten Bau, San Carlo alle Quattro Fontane zu Rom, gipfelt. Bis zu diesem Punkt verläuft die Biographie Borrominis eigentlich unspektakulär, aber trotzdem ist sie von grösster Bedeutung, weil erst durch sie das spätere architektonische Werk verstanden werden kann. Der Ausstellungsbesucher wäre daher gut beraten, wenn er sich mit dem Katalog, dem eigentlichen Glanzstück des Projekts, vorab vertraut machen würde. Zwar geben Tafeln einige Hinweise, aber bei den einzelnen Objekten wurde weitgehend auf Erläuterungen verzichtet.

Für Borrominis Laufbahn war entscheidend, dass er früh schon auf der Mailänder Dombaustelle beschäftigt wurde. Später, in Rom, wurde Borromini immer wieder vorgeworfen, er sei «gotico». In zahlreichen Architekturzeichnungen und vor allem im exzellenten Aufsatz von Aurora Scotti und Nicola Soldini setzt sich die Ausstellung mit der Frage auseinander, was denn wohl der Mailänder Anteil an diesem Attribut gewesen sei. In der lombardischen Kapitale war damals das Problem der Domfassade noch nicht gelöst, der gotische Bau harrte seines Abschlusses. Dass es dabei zur intensiven Auseinandersetzung zwischen modernen Formen und dem Erbe der Vergangenheit gekommen ist, machen verschiedene Exponate einsichtig. Borromini selbst hat spätgotische Cherubim verschiedentlich in barockisierter Form in seinen Kirchenbauten verwendet. Diverse Einzelformen lassen sich ebenfalls bis auf diese Lebensphase zurückverfolgen.

An der Dombauhütte scheint Borromini eine profunde Bildung erhalten zu haben. Insbesondere dürften dazu Kenntnisse in Mathematik und Geometrie zählen. Wie gross das Interesse auch anderer Mailänder Architekten der Zeit daran war, ist genau zu verfolgen. Nicht nur zur Planung neuer Kirchen wurden geometrische Grundformen herangezogen. Auch ältere Bauten - etwa das frühchristliche San Lorenzo - wurden auf ihre geometrischen Grundstrukturen hin befragt. Eine wegweisende Persönlichkeit war Francesco Maria Ricchino, dessen Mailänder Bauten durch ihre schwingenden Innenräume zweifellos einen Referenzpunkt für den jungen Borromini darstellten. Zahlreiche Pläne und ein Modell führen dem Besucher die Zusammenhänge eindringlich vor.

Ein weiterer Punkt ist die Ausbildung Borrominis: Aus einer Familie von Steinmetzen und Bauunternehmern stammend, wurde auch er zunächst zum Bildhauer bestimmt. Die Konsequenzen dieser Ausbildung kommen in der Ausstellung hinsichtlich eines Punktes zu kurz: Aus Borrominis Testament geht hervor, dass er bei sich zu Hause Wachsmodelle seiner wichtigsten Bauprojekte aufbewahrte. Wachs als Entwurfsmaterial des Architekten ist nur dann verständlich, wenn dieser Architekt eben auch Bildhauer ist und als solcher modellierend plant. Für die Ästhetik seiner Bauten ist dieser Aspekt nicht zu unterschätzen, denn er kann unmittelbar mit deren plastischer Durchgestaltung in Verbindung gebracht werden und erklärt ihre dynamischen Grund- und Aufrisse zu einem guten Teil. - Auch in Rom war Borromini zunächst als Bildhauer gefragt. Verwandte hatten ihm dort das Terrain schon geebnet, so dass er unter seinem Landsmann Carlo Maderno und unter Bernini in St. Peter, später auch am Palazzo Barberini mitarbeiten konnte.


Erster römischer Triumph

Den Exponaten gemäss blieb sein Wirken vorerst aufs Dekorative beschränkt. Der Eintritt in eine Baufirma seiner Verwandten machte ihn zum Unternehmer und verschaffte ihm finanzielle Unabhängigkeit. Sie ermöglichte ihm, sich ohne Lohn für jenes Projekt anzubieten, das ihm den Durchbruch als Architekt und die Ausstellung auf ihren Höhepunkt bringt: San Carlo alle Quattro Fontane. Die zahlreichen Originalpläne, Skizzen und das eigens hergestellte Modell verdeutlichen, wie Borromini in diesem Bau die Früchte seiner bisherigen Karriere ernten konnte. Dieser Höhepunkt ist ausserhalb des Museums nochmals präsent. Auf einem Ponton im Luganersee steht ein Modell der Kirche im Massstab 1:1, das - aus Holzbrettern gleichsam aufgeschichtet - einen Schnitt durch deren Inneres zeigt. Beim Nachbau verkehrt sich das Verhältnis von zudienendem und gefeiertem Architekten ins Gegenteil. Die raison d'être dieses Modells ist laut Botta folgende: Weil Wien und Rom - Schauplätze geplanter Borromini-Ausstellungen - den Zeichnungsfundus bzw. die Kirchenbauten besässen, das Tessin aber die Landschaft, habe man durch einen Nachbau den Diskurs zum lokalen Kontext schaffen wollen.

Freilich lässt sich am Modell nicht nachvollziehen, was man als Erkenntnis aus der Ausstellung mitgenommen hat. Wenn es Borromini um das Spiel mit geometrischen Formen geht, so muss ihm eine Rhythmisierung des Innenraums zentrales Anliegen gewesen sein. Diesen in der Mitte zu zerteilen und nur eine Hälfte zu zeigen ist, als bräche man etwa Ravels Boléro nach der Hälfte der Takte ab. Auch die Innenproportionen sind verzerrt: von der Last des Kuppelgewölbes befreit, scheinen die Säulen ungehemmt in die Höhe zu schiessen. Am besten wirkt das Modell aus der Ferne und bei Tag. Dann zeigen die schwarz eingefärbten Schnittflächen durch die Architektur die feinen Profile, und man kann das Ganze als eine Art Ruinenarchitektur lesen. Von nahem aber führt die Schichtung der Holzbretter dazu, dass jede Krümmung abgetreppt und nicht gekurvt ist und sich der Gedanke an Computerdiagramme einstellt. Ob sich da Borromini nicht im Grabe umdreht? (Bis 14. November)


[ Katalog: Il giovane Borromini. Dagli esordi a San Carlo alle Quattro Fontane. Hrsg. Manuela Kahn-Rossi und Marco Franciolli. Skira Editore, Mailand 1999. 528 S., Fr. 70.-. ]

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