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Bauten einer Ausstellung
Neue Zürcher Zeitung

«Architektur in Berlin» - ein Begleitband zur Jahrhundertschau

25. September 1999 - Claudia Schwartz
Anfang des Jahrhunderts schrieb Le Corbusier, Frankreich bleibe das Land der hohen Kunst, Deutschland aber sei der «Werkplatz des Neuen». Im Auge hatte der Baumeister damals Berlin, genauer: das Atelier von Peter Behrens, dessen AEG-Turbinenhalle in Berlin-Moabit gerade fertiggestellt war. Ihre konstruktive Bauweise reduzierte die Formensprache auf wenige Elemente: in sichtbarer Replik auf den industriellen Fertigungsprozess, dem der Bau dienen sollte. Die Turbinenhalle steht heute noch beispielhaft für den architekturgeschichtlichen Aufbruch ins neue Jahrhundert. Es folgten die zwanziger Jahre: Erich Mendelsohns Potsdamer Einsteinturm, der seine Reminiszenz an den Jugendstil in expressionistischer Geste verpackt, oder sein Universum- Kino, ein geschwungener Flachbau, der heute die Schaubühne beherbergt; die Britzer Hufeisensiedlung von Bruno Taut; die von den Brüdern Luckhardt und Alfons Anker entworfene Villa im Berliner Westend, ein hochgestellter Kubus, der als rein weisses Manifest klassischer Moderne gelesen werden kann.

Trotz historischen Brüchen und Kriegszerstörungen sind diese Gebäude alle noch vorhanden - Berlin war eine Hauptstadt der Architektur und ist es immer noch: Der Bogen lässt sich spannen bis in die Gegenwart, wo das wiedervereinigte «neue Berlin», in überstürzter Eile zwar und begleitet von steinernen Diskussionen um Traufhöhen und Blockrandbebauungen, sein architektonisches Gesicht für das nächste Jahrhundert sucht. Wenn es auch noch zu früh ist, Bilanz zu ziehen, so lässt sich an der Spree doch die Geschichte der Baukunst in diesem Jahrhundert nachzeichnen, sagten sich die beiden Kunsthistoriker Andres Lepik und Anne Schmedding. Die Rahmenbedingung für ihren Bildband «Architektur in Berlin» bildet der epochale Rückblick der Staatlichen Museen zu Berlin «Das XX. Jahrhundert - ein Jahrhundert Kunst in Deutschland». Das Buch, so betonen die Herausgeber im Vorwort, möchte sich nicht als Berliner Architekturführer verstanden wissen und erhebt demnach keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es soll vielmehr dazu einladen, die Stadt selbst als Ausstellung zu «lesen» und die Häuser «als Kunst» im architekturhistorischen Kontext des ausgehenden Jahrhunderts sinnlich zu begreifen: eins zu eins, am Beispiel von fünfzig Objekten. In kurzen, subjektiven (und qualitativ sehr unterschiedlichen Essays) umreissen Kunsthistoriker, Architekturkritiker und Architekten Berliner Gebäude, Siedlungen, Strassen und Plätze.

Die Revue durch ein Jahrhundert gebauter Stadt beginnt (früh) mit Paul Wallots Reichstag und endet hier wieder mit Sir Norman Fosters umgebautem Parlamentsgebäude. Zeitlich dazwischen stehen neben den eingangs erwähnten Beispielen der Frühmoderne für die Architektur des Nationalsozialismus der Flughafen Tempelhof von Ernst Sagebiel oder die Müllverladestation von Paul Baumgarten: letztere als ein - seltenes - Beispiel, wie bei weniger renommierten Projekten auch in Zeiten des Nationalsozialismus der Kanon funktionaler Moderne durchsetzbar war. Den illustren Reigen erweitern Eiermanns Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche, Scharouns Philharmonie, Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie, die Stalinallee (heute: Karl-Marx-Allee), Graffunders Palast der Republik, der Potsdamer Platz, Libeskinds Jüdisches Museum, der erweiterte GSW-Hauptsitz von Sauerbruch und Hutton, Zvi Heckers Heinz-Galinski-Schule oder die Infobox von Schneider & Schumacher.

Obwohl die Herausgeber nach eigenen Worten keine «Bestenliste» aufstellen möchten, nimmt sich die Zusammenschau in ihrem Willen zur architekturgeschichtlichen Repräsentanz am Ende doch aus wie ein Résumé der Highlights. Die subjektive Perspektive der Autoren zu ihrem Gegenstand erlaubt aber dennoch einige überraschende Ansichten, vor allem was die jüngeren Bauten der Nachwendezeit anbelangt. So eignet sich dieses Buch auf Grund seiner Unvollständigkeit und der fehlenden Glossare zwar nicht als Nachschlagewerk. An manchen inspirierenden Text wird man sich aber erinnern beim Gang durchs alte und neue Berlin.

Claudia Schwartz

[ Das XX. Jahrhundert - Ein Jahrhundert Kunst in Deutschland: Architektur in Berlin. Hrsg. Andres Lepik und Anne Schmedding. Mit Texten u. a. von Tilmann Buddensieg, Josef P. Kleihues, Vittorio Magnago Lampugnani, Werner Oechslin, Wolf Jobst Siedler, Peter Weibel. Dumont-Verlag, Köln 1999. 128 S., Fr. 29.80. - Fahrrad- und Busführungen bis 9. Januar 2000. Information: www.jahrhundertausstellung.de ]

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