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Tempel und Arche
Neue Zürcher Zeitung

Schriften des Architekten Christopher Wren

29. September 1999 - Ursula Seibold-Bultmann
Die Arche Noah - so überlegt Christopher Wren (1632-1723), der Erbauer der St. Paul's Cathedral in London, in seinem «Discourse on Architecture» - wird eine Pumpmaschine an Bord gehabt haben, denn bei ihrer Grösse und Ladung hätte man mit mindestens 15 Fuss Wasser im Kiel rechnen müssen. Als erstes in der Bibel geschildertes «Peece of Naval Architecture» nimmt sie in seinem innovativen Abriss der Architekturgeschichte, den er im «Discourse» bis zum Grabmal des Etruskerkönigs Porsenna weiterführt, einen Ehrenplatz ein. Wrens christlicher Glaube überlagert sich hier in für ihn typischer Weise mit seinem Hintergrund als Naturwissenschafter sowie mit seinem ausgeprägten Pragmatismus.

Als Mitbegründer der Royal Society (1662) gehörte der Architekt den führenden intellektuellen Kreisen seiner Zeit an. Er verfügte über brillante Kenntnisse auf Gebieten, die von der Archäologie und der Astronomie bis zur angewandten Mechanik reichten, und über internationale Kontakte, die 1665/66 in einer Reise nach Paris gipfelten. Dort sah er nicht nur die prominentesten Beispiele der französischen Barockbaukunst - etwa Lemerciers Sorbonne-Kirche oder Mansarts Val- de-Grâce -, sondern traf auch mit dem betagten Gianlorenzo Bernini zusammen. Die Weite seines geistigen Horizonts macht seine Schriften über Architektur zum anspruchsvollen Stoff für Leser, die ein ideengeschichtliches Interesse an der Epoche der Aufklärung haben.

Unter seinen einschlägigen Texten sind an erster Stelle die Fragment gebliebenen fünf Architekturtraktate (darunter der «Discourse») zu nennen, die sein Enkel 1750 im Rahmen einer Familiengeschichte publizierte. An gleicher Stelle erschienen Wrens ausführliche Notizen über die Altertümer Londons, seine Berichte über den Zustand gotischer Kirchen einschliesslich des durch den verheerenden Stadtbrand von 1666 zerstörten alten Baus von St. Paul's, der vielzitierte Brief aus Paris sowie ein weiterer von 1711, in dem Wren seine Gedanken über eine zeitgemässe englische Kirchenbaukunst darlegt. All diese Quellen sind, neu transkribiert und ausführlich kommentiert, kürzlich von Lydia M. Soo in einem handlichen Band zusammengefasst worden.

Als Baumeister des Barock stützt sich Wren in seinen Schriften selbstverständlich auf die Vorgaben der Antike. Sein naturwissenschaftlich geschulter Blick gab ihm jedoch immer wieder Anlass, deren Autorität zu relativieren. Das spiegelt sich zum Beispiel in seinem doppelten Schönheitsbegriff: Im Gegensatz zur älteren Architekturtheorie gesellte er einer auf Natur und göttliches Gesetz gegründeten «natural beauty» eine «customary beauty» bei, die - und hier erinnert man sich an die von seinem französischen Kollegen Claude Perrault postulierte «beauté arbitraire» - aus den spezifischen kulturellen Gegebenheiten unterschiedlicher Orte und Zeitalter erwachse. Als einer der ersten erkannte der Engländer deshalb auch den gotischen Baustil wieder an (ohne ihn allerdings schon auf gleiche Höhe wie den klassischen heben zu wollen). Im einzelnen war seine Definition architektonischer Schönheit flexibel genug, um mit seinen undogmatischen Bauten nicht in Widerspruch zu geraten - so etwa im Falle der Bibliothek des Trinity College in Cambridge, wo die Geschosshöhe im Gebäudeinnern aus funktionalen Gründen stark von derjenigen der klassisch formulierten Fassaden abweicht.

Die Erläuterungen der Herausgeberin sind nah am Stoff und wissenschaftlich seriös, wenn auch nicht frei von inhaltlichen Wiederholungen. Ihre Wertung von Wrens Leistung wird dadurch etwas einseitig, dass sie Francis Bacons Essay «Of Building» nicht berücksichtigt - einen von ästhetischem Relativismus zeugenden Text, der die funktionalen Aspekte von Architektur betont und der im Kreise der Royal Society zweifellos bekannt war. Dasselbe gilt für den Ansatz Sir Roger Pratts (1620-84) zu einer historisch-vergleichenden Architekturbetrachtung. Demjenigen, der sich für den faszinierenden geistesgeschichtlichen Hintergrund interessiert, vor dem Wrens Rekonstruktionen biblischer Bauten wie etwa des Tempels Salomos zu verstehen sind, sei ergänzend der Katalog der Ausstellung «The Garden, the Ark, the Tower, the Temple: Biblical Metaphors of Knowledge in Early Modern Europe» empfohlen, die 1998 von der Bodleian Library in Oxford in Zusammenarbeit mit dem dortigen Museum of the History of Science gezeigt wurde.


[ Lydia M. Soo: Wren's «Tracts» on Architecture and other Writings. Cambridge University Press, Cambridge 1999. £ 45.-. ]

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