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Ein Freispiel für den Architekten
Der Standard

Valencia leistet sich Santiago Calatravas Stadt der Künste und der Wissenschaften

2. Oktober 1999 - Gert Walden
Wien hat ein Problem mit dem Gürtel. In Valencia ist der größere Teil der Stadt eine Autobahn mit wuchernden Beigaben aus Wohnhäusern und Industriebauten. Diesem privatwirtschaftlichen Wildwuchs wird nun eine „Stadt“ entgegengehalten - die Stadt der Künste und der Wissenschaften als neues Zentrum nahe dem Meer.

Genauso gut könnte man das 350.000 Quadratmeter große Areal der Ciudad de las Artes y las Ciencias in „Calatrava-City“ umtaufen: Santiago Calatrava zeichnet für den größeren Teil der Bauten verantwortlich. Von ihm stammen das Museum der Wissenschaften, der Palast der Künste und das Imax-Kino, die entlang einer Verbindungsachse aufgefädelt sind. Der Entwurf für den anschließenden, kleineren ozeanografischen Park samt Unterwasser-Restaurant kommt aus dem Atelier des Altmeisters Félix Candela.

Santiago Calatrava, Jahrgang 1951, setzt wie bei seinen zahlreichen früheren Werken, die mittlerweile schon zur Grundausstattung in vielen spanischen Städten zählen, wieder voll auf die Verbindung von Architektur und Ingenieurbaukunst. Er grenzt sich auf diese Weise von den „Zweckbauten“ der Umgebung deutlich ab. Seine Konstruktionen unterwerfen sich nicht den anonymen Erfindungen der Ingenieure, vielmehr sucht er statisch sinnvolle Formen, welche Assoziationen zu den Vorbildern aus der Natur und dem menschlichen Körper erlauben. Insgesamt tritt allerdings dann eine Wirkung ein, wie sie schon seit Gaudí bekannt ist: die Konstruktion verwandelt sich zum Ornament, und bei Calatrava auf Grund der Dimension zum brillianten Stadt-Dekor. Valencia erhält also - um bei der Metapher zu bleiben - eine Perle für die derbe Austernschale des städtischen Raumes.

Das gerade fertiggestellte Imax-Kino - im Spanischen „hemisfèric“ genannt - zeigt am deutlichsten die „sprechende Architektur“: wie ein Augenlid lässt sich die Konstruktion öffnen und schließen, im Zentrum findet sich die Pupille - der Kinosaal. Und nachdem ja das Auge bekanntlich rund ist, spiegelt sich das Gebäude in einem künstlichen See, um die Gesamtform zu simulieren. Unwillkürlich denkt man bei einem solchen Effekt an Spaniens Kulturdenkmal Nr. 1, die Alhambra, wo bereits vor mehr als 500 Jahren diese Spiegelungen zur illusionistischen Vollendung von Architektur eingesetzt wurden.

Calatrava begnügt sich allerdings nicht mit der bildhaften Wirkung dieser sehr aufwendigen Konstruktion aus Stahl und Beton. Der Raum zwischen der äußeren, beweglichen Hülle und dem Kinosaal wird jetzt schon für noble Parties genützt. Smokings und bunte Kleider kontrastieren recht eindrucksvoll mit der weißen Architektur und dem Blau des umliegenden Gewässers.

Im größeren Maßstab wiederholt sich das Motiv des Schauens wieder beim Palacio de las Artes, dem Palast der Künste, am Nordende des Areals. Zwei elegante elliptische Betonfassaden sind dem eigentlichen Baukörper vorgespannt. Sie lassen Öffnungen frei, schützen aber auch die Eingangsbereiche zum Open-Air-Auditorium, dem Studio-Theater und einem größeren Theater, dessen Bühnenturm eine vertikale Mitte der Anlage betont. Allein schon der Umstand, dass hier 4.700 Menschen Platz finden, illustriert die Anstrengungen der Stadt Valencia, in die internationale Liga des Kulturbetriebes aufsteigen zu wollen.

Nicht weniger aufwendig ausgefallen ist das Museum der Wissenschaften - höhenmäßig mit 75 Metern die zweite Krone des neuen Zentrums. Während Calatrava beim Kunstpalast eine etwas papierene Plastizität artikuliert, ist die Form des Museums ausschließlich von der Konstruktion abgeleitet. Eine Reihe gewaltiger Betonträger strebt in den Himmel und wieder auf die Erde zurück. Sie verzweigen sich, um in sägezahnähnliche Lichtöffnungen zu enden, halten gleichzeitig innenliegende Galerien und die vorgelagerte Terrasse und werden an den Schmalseiten von zusätzlichen Pfeilern abgestützt. Viel mehr kann Beton wohl nicht mehr leisten, als in Calatravas baukünstlerischen Inventionen, die in ihrer Gesamtheit eine Dalí-hafte Surrealität hervorrufen. Die Vorbilder aus der Natur verwandeln sich unter der Hand des katalanischen Architekten in ein Artefakt aus subjektiver Ambition und technischen Möglichkeiten. Nicht weniger obsessiv ist das Engagement des Auftraggebers. Ein solcher Spielraum für Architektur wurde zwar international immer wieder projektiert, realisiert haben ihn aber das Land und die Stadt Valencia.

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