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Wenn Vergangenheit Zukunft bedeutet
Neue Zürcher Zeitung

Eine Werkschau der Bauhausschülerin Friedl Dicker in Wien

In Österreich, ihrem Geburtsland, ist Friedl Dicker noch immer eine Unbekannte. Dabei weist ihr Werk sie als eine der bedeutendsten Künstlerinnen der Ersten Republik aus. Eine Wanderausstellung, die gegenwärtig in Wien zu sehen ist, beleuchtet nun ihr Schaffen. Allerdings kommt in dieser Schau ein wichtiger Tätigkeitsbereich, die Architektur, entschieden zu kurz.

9. November 1999 - Stephan Templ
Das Schaffen der in Auschwitz ermordeten Wiener Künstlerin und Architektin Friedl Dicker wird in keinem österreichischen Museum permanent gewürdigt. Um so wünschenswerter wäre daher eine gültige Retrospektive. Doch als solche kann man die von Elena Makarova im Auftrag des Simon Wiesenthal Center / Museum of Tolerance in Los Angeles zusammengestellte erste Werkschau dieser bedeutenden Bauhausschülerin leider nicht bezeichnen. Denn die Wanderausstellung, die gegenwärtig auf ihrer ersten Station im Palais Harrach in Wien zu sehen ist, muss sich allzusehr den Interessen der amerikanischen Veranstalter beugen. Die betonte Fokussierung auf die letzten beiden Lebensjahre von Friedl Dicker als Zeichenlehrerin im Konzentrationslager Theresienstadt wird ihrem vielfältigen Werk nur teilweise gerecht. - Obwohl die 1900 geborene, politisch wache Künstlerin unter Johannes Itten am Bauhaus studierte, blieb ihr alles Doktrinäre fremd. Mit der zunehmenden Verdüsterung Europas entfernte sie sich immer mehr von der Abstraktion ihres Lehrers, ja wandte sich ab 1934 in der Prager Emigration gar der Gegenständlichkeit zu. Gleichwohl hinterliess die Avantgarde, namentlich der Surrealismus, Spuren in ihrem Werk.

Nach Zerschlagung der liberalen Tschechoslowakei zog sie sich in die Bergwelt Ostböhmens zurück und flüchtete in die Landschaftsmalerei, in dichte, verinnerlichte Bilder. Briefe bildeten den einzigen Kontakt zur Aussenwelt. Sie litt so sehr unter der Isolation, dass sie die Deportation nach Theresienstadt fast schon als Befreiung empfand. Die psychoanalytisch gebildete Künstlerin konnte in diesem Vorzeigelager der Nazis Kinderzeichenkurse halten, die sie als kunsttherapeutische Arbeit betrachtete. - In ihrer Ausstellung geht es Makarova weniger um eine kunsthistorische als um eine emotionale Betrachtung. So wundert es auch nicht, dass das architektonische Schaffen Friedl Dickers in den Hintergrund tritt.

Dabei gehören die vom Gemeinschaftsbüro Friedl Dicker und Franz Singer entworfenen Raumkonzepte zu den aussergewöhnlichsten künstlerischen Leistungen der Ersten Republik, aussergewöhnlich unter anderem deshalb, weil sie wenig gemeinsam haben mit der «Wiener Moderne» eines Adolf Loos oder eines Josef Frank - und schon gar nichts mit dem expressiven Pathos der Wiener Gemeindebauten. Mit ihren genialen Möbeln zum Stapeln und Klappen wird der Raum zum wandelbaren Ambiente, sei es zur Unterhaltung eines exzentrischen Bauherrn (Gästehaus Heriot) oder aus sozialökonomischer Notwendigkeit (Siedlungen in Palästina).

Interessant wäre freilich gewesen, anknüpfend an die 1989 in Basel gezeigte Ausstellung «Franz Singer / Friedl Dicker 2× Bauhaus in Wien», herauszufinden, ob nun tatsächlich das rational- funktionale Element von Singer und das offene unorthodoxe Formprinzip von Dicker komme. Die Gestalter der Wiener Schau, die Architekten Georg Schrom und Marcin Gregorowicz, versuchen diese beide Aspekte zu vereinen. Sie versachlichen die Ausstellung, obwohl man auf Wunsch des Veranstalters Eisenbahnschwellen - Symbol der Deportation - als Sockel verwendet.

Die gebauten Zeugnisse von Singer/Dicker wurden zerstört - bis in die sechziger Jahre hinein, wie der Architekturhistoriker Friedrich Achleitner schreibt: «So gehört es zur tragischen Ironie dieses Werkes, dass alles, was mit einem Ort verbunden war, zerstört wurde, ausgerottet mit dem unbestechlichen Instinkt für jene Qualitäten, die das eigene Denken in Frage stellen könnten. Wer als junger Mensch in den fünfziger Jahren noch die Ruine des Gästehauses Heriot gesehen hat, glaubte aber nicht einer Vergangenheit, sondern der Zukunft begegnet zu sein.» (Bis 28. November)


[ Zur Ausstellung, die anschliessend noch im Johanneum Graz, im Egon-Schiele-Museum Ceský Krumlov und im Jüdischen Museum Paris gezeigt wird, liegt ein im Verlag Christian Brandstätter, Wien, erschienener Katalog vor (390 Schilling). ]

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