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Baukunst und Industrieruinen
Neue Zürcher Zeitung

Die baskische Metropole im Jahre drei nach Guggenheim

Kaum eine andere europäische Stadt hat ihren Eintritt ins 21. Jahrhundert so gezielt vorbereitet wie Bilbao. Nach einem katastrophalen Niedergang arbeitet die Metropole des Baskenlandes zusammen mit internationalen Architekten an einem neuen, für Investoren und Touristen gleichermassen attraktiven Image. Ein Rundblick im Jahre drei nach der Guggenheim-Eröffnung.

31. Dezember 1999 - Roman Hollenstein
Düster waren noch vor wenigen Jahren die Bilder, die man sich von Bilbao machte. Verrottende Industrieanlagen, schwefliger Nebel, ein öliger Fluss und Terroranschläge liessen die Stadt am Nervión als gespenstische Kulisse für nachtschwarze Endzeitdramen erscheinen. Dabei genoss sie vor nicht allzu langer Zeit noch den Ruf eines pulsierenden Industrie- und Bankenzentrums, das sich auch durch Francos Demütigungen nicht in seinem Selbstverständnis irritieren liess. Dann aber geriet die russgeschwärzte Lokomotive der spanischen Wirtschaft ins Stocken, entlang der Ría genannten Mündung des Nervión schloss eine Fabrik nach der andern, und in den Hochöfen ging die Glut für immer aus. Fortan sorgte die graue Stadt am kantabrischen Meer nur mehr mit hohen Arbeitslosenquoten und brutalen ETA-Attentaten für Schlagzeilen.


Wunder von Bilbao

Was blieb Bilbao andres übrig, als sich nach vorn zu orientieren? Während die Anhänger von ETA und Herri Batasuna mit allen Mitteln einen eigenen Baskenstaat erzwingen wollten, versuchte die Stadtverwaltung mit der Förderung von Hochtechnologie, Dienstleistungen und Tourismus Arbeitsplätze zu schaffen und so eine neue Zukunft zu erfinden. Das Zauberwort im globalen Kampf um Standortgunst hiess (Bau-)Kunst. Nun besass die einst so reiche Stadt mit dem Museo de Bellas Artes (MBA) bereits eine der besten Gemäldesammlungen Spaniens und mit dem Arriaga-Theater eine altehrwürdige Institution. Als Identifikationsfiguren eines neuen Bilbao wirkten diese beiden Häuser aber etwas gar verstaubt. 1991 wurden deshalb Kontakte zum damals gerade mit Expansionsplänen liebäugelnden Guggenheim-Museum gesucht. Sie führten schnell zum Ziel: Für 150 Millionen Franken entstand - unter anderem mit Geldern der EU - ein spektakulärer Neubau von Frank O. Gehry für die im Turnus leihweise zur Verfügung gestellten Sammlungsbestände des New Yorker Kunstmultis. Als dann im Oktober 1997 das an ein Titangebirge oder eine stählerne Magnolie erinnernde «Guggenheim Bilbao» seine Tore öffnete, trafen zusammen mit den Liebeserklärungen der Kritiker auch schon die ersten Kulturreisenden ein.

Hunderttausende haben inzwischen Blockbuster Shows wie «5000 Jahre China» oder Richard Serra gesehen. Spätestens seit der Retrospektive des grossen baskischen Eisenplastikers Eduardo Chillida ist auch bei den Intellektuellen in der Region der Vorwurf des Kulturkolonialismus leiser geworden. Das MBA nahm die Herausforderung der neuen Konkurrenz an, konterte mit Ausstellungen wie Velázquez, Gentileschi oder Caravaggio und machte sich an eine bauliche Erweiterung. Dank der baskischen Geschäftstüchtigkeit, die auch nicht vor der Kunst zurückschreckt, stieg Bilbao gleichsam über Nacht als Juniorpartner von Madrid und Barcelona ins Dreigestirn des spanischen Ausstellungsbetriebs auf. Diese Position wird zurzeit mit einer Andy-Warhol-Schau (bis 13. Januar) und der Ausstellung «Stilleben von Zurbarán bis Picasso» (bis 19. April im MBA) eindrücklich verteidigt.


James Bond in Abandoibarra

Seit wenigen Wochen nun flimmern die Bilder des neuen Bilbao dank James Bond rund um den Globus. Denn der Geheimagent Ihrer Majestät hat es ausgerechnet mit gierigen Schweizer Bankiers vor Jeff Koons' zum Klischeebild eines neu erblühten Selbstbewusstseins avancierten Blumenhund «Puppy» und vor Gehrys schwindelerregendem Musentempel zu tun. Dabei hätte man ihn doch wohl eher im Geschäftsviertel an der Plaza Circular erwartet. Dieses erreicht man seit 1995 am schnellsten mit der hypermodernen, von Bonds Landsmann Norman Foster erdachten Metro. Aus der übersichtlich hellen Station Abando gelangt man durch «Fosteritos» genannte Glastrichter - kongeniale Neuinterpretationen von Guimards Pariser Métroeingängen, die an durchsichtige Insektenlarven erinnern - hinauf auf einen geschäftigen Platz, der mit dem minimalistischen BBV-Hochhaus und den gravitätischen Tempelfassaden für einen Augenblick an New Yorks Wallstreet denken lässt.

Von hier führt die Gran Vía quer durch die seit 1876 nach den Plänen von Achúcarro, Hoffmeyer und Alzola angelegte Stadterweiterung mit ihren Wohn- und Büropalästen aus allen Epochen, von der Gründerzeit über Jugendstil und Art déco bis zur Nachkriegsmoderne. Der Prachtboulevard endet an der Plaza del Sagrado Corazón, von wo aus man die obersten Ränge der etwas in die Jahre gekommenen Fussballkathedrale von San- Mamés erahnen kann, für die Calatrava und Foster 1995 im Auftrag von Atlétic de Bilbao zwei nicht realisierte Neubauprojekte vorlegten. In Richtung Ría hingegen erblickt man den vor wenigen Monaten eingeweihten jüngsten Prestigebau der Stadt: den Palacio Euskalduna. Dieser Kongresspalast und Opernhaus vereinende, formal höchst widersprüchliche Bau der jungen Madrilenen Federico Soriano und Dolores Palacios, der sich anstelle der ausgedienten Euskalduna-Werft als Collage aus rostigem Schiffsrumpf und nüchternem Bürohaus erhebt, ist mit seinen lyrischen Aufführungen und Tagungen Bilbaos neuster Trumpf im Streit um Standortgunst und Luxustourismus.

Am besten lässt er sich von der gekurvten Panoramastrecke der elegant überdachten Fussgängerebene von Javier Manterolas 1998 vollendeter Euskalduna-Brücke aus betrachten. Sie und der Gehry-Bau werden dereinst das neue, von Cesar Pelli unter dem vielsagenden Projektnamen Ría 2000 bereits 1992 geplante Abandoibarra-Viertel begrenzen. Auf dem zurzeit als Containerumschlagplatz genutzten Gelände sollen ausser dem von Javier López Chollet entworfenen Parque de la Ribera Stadthäuser mit 800 Wohnungen, Bürobauten, ein Museo Marítimo und die über eine neue Passerelle mit der Universidad de Deusto am anderen Ufer verbundene Universitätsbibliothek entstehen. Ein Tram wird das neue Quartier über die Plaza Circular mit den «Siete Calles» der pittoresken Altstadt verbinden, die im kommenden Juni ihren 700. Geburtstag feiern kann.

Bis diese Tramlinie im Jahr 2005 eröffnet wird, geht man von Abandoibarra am besten zu Fuss in Richtung Altstadt. Vorbei am Wasserbecken vor dem Guggenheim und unter der imposanten Salve-Brücke hindurch führt nämlich bereits eine neue Promenade dem Südufer der Ría entlang. Vorerst endet sie allerdings bei Calatravas weisser Zubizuri-Fussgängerbrücke, einem ingenieurtechnischen Juwel, das einer windgepeitschten Harfe gleich den Fluss überspannt. Am anderen Ufer flaniert man dann - mit Blick auf die Ruinen verlassener Handelshäuser - durch die historistische Arenal-Anlage bis zum Arriaga-Theater und zu den Siete Calles, die sich zwischen der klassizistischen Plaza Nueva und Pedro Ispizuas bizarrem Mercado de la Ribera erstreckt. Diese Markthalle liegt seit 1930 wie ein Schiff im trüben Nervión vor Anker; und es dürfte wohl noch Jahre dauern, bis sie sich in sauberen Fluten spiegeln wird. Schon jetzt aber verströmen der 1946 gegenüber der Altstadt an der Muelle Naja nach Plänen von Galíndez & Chapa realisierte Bailén-Turm und die an ihn angedockten Häuser zusammen mit dem neubarocken Bahnhof einen Hauch von Chicago und lassen erahnen, wie hier bereits einmal ein Boom architektonische Form annahm.


Eine Stadt des 21. Jahrhunderts?

Der phänomenale Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre findet seinen Niederschlag allerdings nicht mehr nur im Herzen Bilbaos, sondern auch an einem Eingangstor: dem Sondika-Flughafen, wo - unweit des Technoparks Zamudio - demnächst Calatravas neues, an den Falkenkopf des ägyptischen Sonnengottes Horus erinnerndes Terminalgebäude und ein Kontrollturm in Form einer weissen Calla-Blüte in Betrieb genommen werden können. Diese neuen Wahrzeichen sind ebenso unverwechselbar wie Gehrys Guggenheim. Sie zeigen aber auch, dass das gut zwei Millionen Einwohner zählende autonome Baskenland (von denen die Hälfte im Grossraum Bilbao lebt) nur mit Hilfe von Kulturimporten Grösse und Bedeutung demonstrieren kann. Das freut die nationalistisch gesinnten Kreise wenig. Doch nicht deswegen droht der Zukunftsoptimismus des kaum aus der Asche des Niedergangs erstandenen baskischen Phönix im eisigen Wind des Terrors zu erstarren, sondern einmal mehr politischer Händel wegen. Denn nachdem Anfang Dezember die ETA ihren Waffenstillstand aufgekündigt hat und die nationalistischen Parteien - gestützt von 15 000 auf die Strassen von Bilbao geeilten Demonstranten - wieder Unabhängigkeitsgelüste hegen, könnte die seit einigen Jahren so fruchtbringend sprudelnde Energie der Stadt erneut in Angst versiegen. Ob dann Gehrys selbst unter Bizkaias grauem Himmel stets heiter funkelnder Jahrhundertbau für Investoren und Touristen weiterhin als Symbol einer Stadt des 21. Jahrhunderts gelten könnte?

Roman Hollenstein

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