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Einkaufen in jeder Lebenslage
Der Standard

Museen werden zu Shops, Flughäfen zu Einkaufszentren: Ein Interview mit Rem Koolhaas

28. November 2001
Standard: Warum geht alle Welt ständig einkaufen?

Rem Koolhaas: Ich denke, dass die Leute traurigerweise nichts Besseres zu tun haben.

STANDARD: Wie haben Sie sich gemeinsam mit Ihren Harvard-Studenten dem Phänomen „Einkaufen“ genähert?
Koolhaas: Wir haben uns die Verschiebung von öffentlichen zu privaten Institutionen sehr genau angeschaut, die alle Städte massiv betrifft. Vor dreißig Jahren war die überwiegende Mehrheit der verschiedensten Institutionen öffentlich und für jedermann frei nutzbar, heute entstehen die meisten Gebäude und Einrichtungen privatwirtschaftlich, und man muss für die Benutzung zahlen, was eine gravierende gesellschaftliche Veränderung bedeutet.

STANDARD: Welche Fakten haben Sie zu dieser Erkenntnis geführt?

Koolhaas: Wir beginnen unsere Untersuchungen immer mit Statistiken, in diesem Fall haben wir uns angeschaut, wie intensiv sich die verschiedenen Kulturen dem Einkaufen widmen, und haben etwa herausgefunden, dass jeder einzelne Amerikaner bildlich gesprochen mehr als fünf Quadratmeter Einkaufsfläche mit sich herumschleppt und über sein gesamtes Leben mitfinanzieren muss.

Wir haben auch den Prozentsatz der Gebäude recherchiert, die in Zusammenhang mit Shopping weltweit gebaut werden und die Einkaufswelten Singapurs, Amerikas und Europas analysiert. Europa zum Beispiel versucht dem massiven Shoppingtrend in gewisser Weise zu widerstehen, was natürlich wiederum alle möglichen anderen unvorhersehbaren Effekte produziert.

STANDARD: Shopping bahnt sich also anderswo seinen Weg?

Koolhaas: Um zu prosperieren, infiltriert Shopping die verschiedensten Einrichtungen. Wir haben kaum noch Museen, sondern Museumsshops, wir haben keine Flughäfen, sondern Flughafeneinkaufszentren. Shopping infiltriert jede menschliche Aktivität und zeigt mittlerweile einen ungeheuren und unterschätzten Einfluss auf unsere gesamte Kultur.

STANDARD: Inwieweit gilt das auch für die Architektur?

Koolhaas: Das Einkaufen hat eine völlig neue Rezeption von Architektur hervorgebracht, immer mehr Gebäude sind ausschließlich dem Einkaufen gewidmet, und viele davon sind Hunderte Male größer als Einkaufsstätten früher. Es entstehen Gebäude von derartig enormen Dimensionen, dass man nicht mehr erkennen kann, wo sie beginnen und wo sie enden. Manche Teile innerhalb dieser Gebäude sind alt, andere werden erneuert, überall wird angebaut, und so entstehen gewissermaßen Metabolismen, wo früher klar definierte Häuser waren.

STANDARD: Was bedeutet das für den Prozess des Bauens?

Koolhaas: Die angestammte Ernsthaftigkeit und Solidität des Bauens schwindet, sobald der ohnehin vorhersehbaren baldigen Veränderung des Gebäudes Rechnung getragen wird. Die Konstruktionsmethoden werden beliebiger, die massiven Baustoffe wie Beton und dergleichen verschwinden zugunsten flüchtigerer Materialien wie Pappendeckel und Kunststoff. Der Shopping-Boom bewirkt also nicht nur eine Veränderung der Maßstäbe, er betrifft jedes Detail dieser architektonischen Gebilde und widersteht so all den althergebrachten logischen Grundsätzen der Architektur.

STANDARD: Wird dem architektenseits schon entsprochen?

Koolhaas: Nein. Statistische Analysen von Architekturmagazinen bezüglich dort präsentierter Bauaufgaben haben ergeben, dass Shoppingprojekte nur an dreißigster Stelle rangieren, also praktisch nicht Thema für Architekten sind. Das ist erstaunlich, denn gerade auf diesem Gebiet wird am meisten gebaut.

STANDARD: Ist dieser übersteigerte Einkaufswahn überhaupt neu?

Koolhaas: Nein, aber der Prozess hat sich in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren enorm beschleunigt und verselbstständigt, und er wird weiter an Einfluss auf unser gesamtes Leben gewinnen.

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