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Hinter dem Pflaster liegt der Strand
Neue Zürcher Zeitung

Portos Stadterneuerung zwischen Zentrum und Meer

Koolhaas' Casa da Música in Porto, geplant als Wahrzeichen der europäischen Kulturhauptstadt 2001, wird nicht vor 2003 eröffnet werden. Bereits zu sehen sind aberandere Ergebnisse des Erneuerungsprozesses, dem sich die nordportugiesische Metropole zurzeit unterzieht. Noch Zukunftsmusik ist Sizas zentrale Avenida da Ponte.

7. Dezember 2001 - Markus Jakob
Lange Zeit war Portos Altstadt mit ihren steil zum Douro abfallenden Strassen vom Zerfall bedroht. Heute, da es ihr wieder besser geht (NZZ 14. 6. 99), bildet sie für die Urbanisten nur noch einen Nebenschauplatz. Seit Fernando Távoras Plan für das Barredo-Quartier (1969), am intensivsten aber in den neunziger Jahren, habenpunktuelle Eingriffe die Wohnbedingungen verbessert - erfreulicherweise ohne dass die ansässige Bevölkerung dadurch vertrieben worden wäre. Dazwischen liegen die Nelkenrevolution (1974), die Verlagerung der Machtbefugnisse auf lokale Ebene (was die Planung belebte, aber auch kontroverser machte); und 1996 die Aufnahme des innerhalb der «Muralhas Fernandinas» liegenden Stadtkerns in den Katalog des Weltkulturerbes. Nicht dass der Fall damit erledigt wäre: Die alte Bausubstanz wird auch weiterhin vieler Interventionen bedürfen. Eines der jüngsten Beispiele: Viela do Anjo, ein winziger neuer Platz im Häusergewirr nördlich der Sé, der Kathedrale.

Das Rezept kann statt Auflockerung allerdings auch Verdichtung heissen. Das Paradebeispiel dafür ist Alvaro Sizas Projekt für die AvenidaD. Afonso Henriques, kurz Avenida da Ponte genannt, da es sich um die Verbindung der Dom- Luís-Brücke mit der zentralen Praça da Liberdade handelt. Hier begann die Salazar-Diktatur Ende der dreissiger Jahre mehrere Häuserblöcke abzureissen. Zweck der Übung: die Sé aus dem Gewebe der Altstadthäuser herauszulösen und alsfrei über der Stadt thronendes Gebäude zur Geltung zu bringen. Das Ergebnis war eine unansehnliche Wunde mit einigem Verkehr, die die Sé nach heutigem Verständnis nicht unbedingt attraktiver machte. Dutzende von Studien hatten sich seit dem Bau der Brücke (1886) mit diesem schwierigen Stadtraum befasst. Siza schlug 1968 vor, den Blockrand auf der felsigen Westseite der Avenida zu vervollständigen, ein Projekt, das die Fernansicht des Tempels nicht beeinträchtigt hätte. Sein neuer, umstrittener Entwurf sieht hingegen die Erhaltung der Granitfelsen und die Überbauung der Ostseite vor, um die Kathedrale wieder in einen urbanen Kontext einzubinden. In den Worten des Architekten: «Ihr ihren bescheidenen, nicht mehr triumphalen Platz im Stadtgewebe zurückzugeben.» Ein der Aussichtsterrasse vorgelagerter Turmbau von Fernando Távora weist bereits in dieselbe Richtung. Sizas Masterplan sieht zwar auch einige Wohnungen vor, aber die drei grössten der neun sehr verschieden dimensionierten Baukörper sind einem Stadtmuseum vorbehalten. Auf dem Papier ist dieses Museu da Cidade grösser als Sizas auch schon generös dimensioniertes, 1999 eröffnetes Serralves-Museum. Es ist anzunehmen, dass dieses Nutzungsmuster noch modifiziert wird; kann es doch nicht darum gehen, die eine Monumentalität durch eine andere zu ersetzen.

«Regresso à Baixa»

Den Auftrag zum Projekt Avenida da Ponte erteilte das gemischtwirtschaftliche, von Brüssel und Lissabon finanzierte Konsortium Porto 2001 SA. Der im Hinblick auf das für Porto kapitale Jahr in Gang gesetzte Erneuerungsprozess war jedoch keineswegs auf die Altstadt beschränkt. Unter dem Stichwort «Regresso à Baixa» - zurück ins Zentrum - organisierte Porto 2001 eine Reihe von Wettbewerben, die das angrenzende «bürgerliche» Stadtzentrum betrafen. Anders als die Altstadt, der der Tourismus und das Nachtleben einen gewissen Rückhalt verleihen, war das namentlich nachts eine zunehmend desolate Gegend. Zwar liegen hier mehrere grandiose, jetzt renovierte Theater wie das «Coliseu», das «Rivoli», das «S. João» und das «Carlos Alberto»; andere Marksteine der portuensischen Moderne wie das Café A Brasileira und das Kino Batalha waren jedoch lange dem Zerfall preisgegeben, das Viertel hinter dem Bahnhof São Bento ist durch die Prostitution stigmatisiert. Wegen der mangelnden Sicherheit wollte kaum jemand mehr hier leben.

Das fragliche Gebiet wurde in zwei westlich und zwei östlich der zentralen Avenida dos Aliados liegende Zonen eingeteilt. Im Februar 1999wurden für jede dieser vier Zonen vier Architekten zu einem Ideenwettbewerb eingeladen. Die Gewinner waren nicht nur für die Neugestaltung des öffentlichen Raums verantwortlich, sie hatten zugleich auch die Tiefbauarbeiten zu koordinieren. Ging es hier doch um mehr als Maquillage:Die Kanalisation und andere Infrastrukturen wurden vollständig erneuert, das ganze Viertel verkabelt und mehrere unterirdische Parkhäuser gebaut. Nuno Grande, Chefurbanist bei Porto 2001,räumt ein, dass Parkhäuser heute als eher antiquiertes Konzept anmuten. «Aber wie soll manneue Bewohner anlocken, wenn man ihnen keinen Parkplatz anbieten kann? Von seiner Topographie her ist Porto nun einmal keine Fahrradstadt. Dafür ist auch ein kleiner Strassenbahnringgeplant, der die kulturellen Wahrzeichen vom Coliseu bis zum Museu Soares do Reis verbindet.»

Binnen knapp dreier Jahre sind Portos vier zentrale Hauptplätze vollständig erneuert worden. Der grösste von ihnen ist die Cordoaria, eineenorme dreieckige Esplanade, die Camilo Cortesão durch Reihen paralleler, versenkter Lichtbahnen neu strukturiert hat. Mit der Installation einer Skulptur des unlängst verstorbenen Juan Muñoz werden die Arbeiten demnächst abgeschlossen. Auch in den drei andern Zonen steht je eine Platzanlage im Mittelpunkt der Planung. Zur Praça de Carlos Alberto (Entwurf: Virgínio Moutinho) kommt ein ganzes Netzwerk von Strassen hinzu, so namentlich die kurze, aber imposante Rua de Ceuta: eine in den fünfziger Jahren gelegte Schneise, deren radikal rationalistische Bauten an kühler Urbanität noch übertroffen werden durch ein bereits 1932 projektiertes Parkhaus - Garagem do Comércio -, das die Perspektive wie ein Theater der Motorisierung abschliesst. Je länger man Porto durchstreift, desto mehr stauntman über seinen Reichtum an erstrangigen Bauten auch aus den Jahren des Estado Novo.

Ein faszinierendes Beispiel von Stadtentwicklung bietet auch die Rua Sá de Bandeira. Als städtischer Korridor der Jahrhundertwende anhebend, schwingt sie sich in ihrem Mittelteil zu Portos Broadway auf, um sich erst um 1960, da aberschon in völliger Dissonanz und moderner Auflösung, endgültig Bahn zu brechen: dieses kachelwandige Kirchlein vor dem zehnstöckigen Rundbau eines andern Parkhauses . . . Wie die parallel verlaufende Hauptgeschäftsstrasse Santa Catarina und wie überhaupt ein Grossteil der Baixa-Strassen ist Sá de Bandeira neu gestaltet worden: mit breiteren Bürgersteigen, modernerem Mobiliar. Verantwortlicher Architekt für diese nach der Praça D. João I benannte Zone war Alexandre Alves Costa. - Schliesslich Batalha, der Platz mit dem gleichnamigen, 1947 von Artur Andrade vollendeten Kino, das demnächst restauriert werden soll. Kurz vor dem Abschluss steht der von Adalberto Dias projektierte Umbau des Platzes; die neue Treppenanlage zur Kirche Santo Ildefonso wurde vom Altmeister Távora entworfen.

Für diesen enormen, in sehr kurzer Zeit erbrachten Effort gibt es laut Nuno Grande einVorbild. «In Barcelona wurde die Idee, die Renovation des öffentlichen Raums dynamisiere auchdie privaten Bereiche, zuerst und am konsequentesten verwirklicht. Auch Lissabon hat anlässlich der Expo 98 in seinen östlichen Stadtteilen einen Versuch in dieser Richtung unternommen. Was wir hier aber ausserdem anstreben, ist der Bilbao- Effekt, der Effekt Guggenheim, und zwar in Gestalt der Casa da Música.»

Rem Koolhaas im Service public

Die Casa da Música, so veranschaulicht es Nuno Grande, ist gleichsam «ein Meteorit, der an der Avenida Boavista einschlägt und einen grossen Raum freilegt». Das Projekt übernimmt so nebenbei auch die Funktion des öffentlichen Raums, die die angrenzende Rotonde (Praça Mouzinho de Albuquerque) trotz ihrer Grösse nur ungenügend erfüllt. Hauptsache ist aber natürlich der Meteorit selbst. Rem Koolhaas ging aus einem sehr kurzfristig anberaumten Wettbewerb als Sieger hervor, und sein Entwurf ist denn auch - «unsere Mitarbeiter konnten es selbst kaum fassen, dass wir so zynisch sind», soll er gesagt haben - nichts anderes als die aufgepumpte Version eines für Rotterdam geplanten Einfamilienhauses: ein auskragender Polyeder mit einigen grossen Glasflächen. Die «Schuhschachtel» im Innern des weissen, an die Ästhetik der unsichtbaren Stealth-Bomber erinnernden geometrischen Körpers war ursprünglich ein Wohnraum und ist nun der grössere der beiden Konzertsäle. «Ein seltsamer, sicher Polemiken hervorrufender Bau, mit einer nie gesehenen Axionometrie, konstruktiv knifflig», wie Nuno Grande anmerkt. Das Programm geht weit über das eines traditionellenKonzerthauses hinaus. Da wird es Musikgeschäfte und Buchhandlungen geben, Mediatheken undÜbungsräume für Bands, Studios, eine Musikschule, das Dachrestaurant: Es soll fast rund umdie Uhr etwas laufen. «Ein thematisches Gebäude, Gehrys Rockpalast in Seattle nicht unverwandt, wobei in Europa natürlich die Idee des Service public dazukommt: Man soll die Casa da Música wie sein eigenes Haus benützen können.»

Die Zufallsentwicklungen, nach denen Porto sich seit dem späten 18. Jahrhundert ausdehnte, hinterliessen einen über weite Strecken eher locker bebauten, aus quasi autonomen und oft gegensätzlichen Clusters (man spricht von «ilhas», Inseln) bestehenden Stadtraum. Die ältesten, nach Norden verlaufenden Ausfallachsen wurden Anfang des 20. Jahrhundertsmonumentalisiert: Es ist jenes bürgerliche Zentrum, das jetzt neu gestaltet wird. Im Osten, mit dem Fluchtpunkt des Bahnhofs Campanha, sind die proletarischen Viertel konzentriert. Zögerlicher verlief die Entwicklung westwärts, der fünf Kilometer entfernten Atlantikküste entgegen.

Eine virtuelle Prachtstrasse

So blieb auch die einzige grosse urbanistische Geste des 19. Jahrhunderts, die von der Rotonde ausgehende und bei Foz an den Atlantik stossende Avenida Boavista, bis heute eben dies: eine Geste. In ihrer Ausdehnung und Lage im Stadtganzen den Hauptachsen von Madrid und Barcelona, der Castellana und der Diagonal, durchaus ebenbürtig, bringt ihre Architektur - bis auf vereinzelte frühe Prachtvillen - doch weder die Dramatik noch die Ambition, die der 1854 projektierten Strassenanlage innewohnen, zum Ausdruck. Einige neuere Hotel- und Kommerzbauten sind sogar ausgesprochen lamentabel; und nur indirekt, denn es liegt etwas abseits davon, hat jetzt Sizas Serralves-Museum zur Aufwertung dieser Prachtstrasse in spe beigetragen. Die Avenida Boavista ist aber zweifellos die Achse, an der sich Porto in die Zukunft katapultieren kann.

Koolhaas' Polyeder an der Rotonde wird ihren Auftakt bilden, und auch das meerseitige Ende nimmt jetzt Form an: der 50 Hektaren grosse Stadtpark, Parque da Cidade, nach einem Entwurf des katalanischen Architekten Manuel deSolà-Morales. Eine zweite monumentale Rotonde, erhöht geführt, ermöglicht den direkten Zugang vom landeinwärts sich erstreckenden Park zum Strand. Sie ist zugleich das Gelenk, das die Avenida Boavista mit der Küstenstrasse verbindet, die zur Mündung des Douro und von dortdem Flussufer entlang in die zentrale Ribeira zurückführt. Eine neue Strassenbahnlinie wird dieses fünfzehn Kilometer lange U, das irgendeinmalzu einem Circuit geschlossen werden soll, begleiten. Am Douro-Ufer kann das Tram mangels Platz allerdings nur einspurig geführt werden: Die Konvois kreuzen sich an den Haltestellen. Die engen, trotzdem bis heute fast ländlich anmutenden Verhältnisse haben die Planer ausserdemzum Bau einer Passerelle bewogen, die den Fahrverkehr auf einer kurzen Strecke über den Fluss ausweichen lässt: ein so eleganter Schlenker, als hätte er dort schon immer gestanden - genauso wie übrigens die neuen, pavillonartigen Strandcafés. Mehrere Kilometer sind inzwischen zu veritablen Promenaden vor teilweise ärmlichem Hintergrund ausgebaut worden.

Nebeneinander von Gross und Klein

Das mondänste und das verwunschenste Porto prallen hier aufeinander, und genau dieses Nebeneinander von Gross und Klein, von Provinziell und Metropolitan machte schon immer denReiz der Stadt aus. Kein Gesprächspartner versäumt es, auf die «Caminhos del Romantico» hinzuweisen, so bescheiden sie sich neben den andern Projekten von Porto 2001 ausnehmen: einige frisch gepflästerte Wege und neue Strassenlampen zwischen den alten Granitmauern, welchedie einst von englischen Familien gebauten Anwesen hinter dem Jardim do Palácio de Cristal umfassen. Es ist derselbe Granit, der den seit Jahrzehnten geplanten Bau einer U-Bahn erschwert. Die Tücke des teils sehr harten, teilsporösen Gesteins hat sich bei den nun aufgenommenen Bauarbeiten bereits wiederholt erwiesen: Drei Häuser sind seit 1998 eingestürzt. Die Metro wird vom Bahnhof Campanha unterirdisch in die Stadtmitte führen; von dort oberirdisch, auf einem bestehenden Trassee, bis zur Boavista- Rotonde und weiter zum Flughafen. Eine zweite Metrolinie soll das Zentrum über die Dom-Luís- Brücke mit Vila Nova de Gaia verbinden, während der Autoverkehr über eine neue, bereits imBau befindliche Brücke etwas östlich davon geleitet werden wird. Nuno Grande spricht es mit einem Schulterzucken aus: «Ich fürchte, bei dieser Bauorgie wird auch das eine oder andere Kleinod, das anlässlich von Porto 2001 entstanden ist, wieder zerstört werden.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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